Buchauszug | Psychotherapie ohne Fachgedöns: Wut

Wisst ihr, was cool wäre? Wenn es eine Expertin geben würde, die Einblicke hinter die sonst verschlossenen Türen einer Therapie geben würde. Stop, halt! Genau die gibt es schon – was für ein Glück! Denn Nike Hilber ist Psychologin und approbierte Psychotherapeutin und hat sich genau das auf die Fahne geschrieben: Menschen einen authentischen Einblick in die Welt der psychodynamischen Psychotherapie zu geben – ganz ohne Fachgedöns. Was digital mit ihrem Instagram-Account la_psychologista begann, dürfen wir nun auch analog in den Händen halten. Denn Nikes Buch "Psychotherapie ohne Fachgedöns" leistet nicht nur einen wichtigen Beitrag rund um die Entstigmatisierung von Psychotherapie, sondern bringt uns das Thema Psychotherapie näher – barrierefrei, leicht verständlich und ohne Fachgedöns. Wir durften einen Auszug aus dem Kapitel "Wut" veröffentlichen – vielen Dank!

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Wut

Ich war gerade erst nach Hause gekommen, als ich mich schon entkräftet auf unsere Küchenbank fallen ließ. Mit übernächtigten Augen suchte ich den Küchentisch nach der Tasse Kaffee ab, die ich mir heute früh aus dem Vollautomaten gelassen hatte. Mein Blick fiel auf das alltägliche Chaos, das die morgendliche Routine auf dem Küchentisch hinterlassen hatte: Ein von Kinderzähnen halbmondförmig angeknabbertes Stück Toast mit Butter und Marmelade lag achtlos hingeworfen neben dem ursprünglich dafür gedachten Teller, umgeben von unzähligen, sich in alle Richtungen ausbreitenden Krümelspuren. Wie Hänsel und Gretel folgte ich ihnen mit den Augen bis zu einem halb vollen Glas Milch, welches gefährlich nah an der Tischkante stand. Kurz hatte ich den Eindruck, dass das Glas mich provozieren wollte und gehässig damit drohte, sich über die Kante in die Tiefe zu stürzen. Jetzt fühlte ich mich schon von Gläsern angegriffen, nahm ich einigermaßen resigniert zur Kenntnis und suchte weiter. Zwischen alten Werbeprospekten, Buntstiften und Laras Lätzchen lagen noch vereinzelt Apfelschnitze vom Frühstück herum, die mittlerweile braun angelaufen waren. In dem Chaos wirkten sie wie kleine Schiffchen, die orientierungslos in diesem Frühstücksmeer vor sich hin dümpelten.

Meine Kaffeetasse konnte ich allerdings nirgends entdecken. Hatte ich mir etwa keinen Kaffee gemacht? Ich versuchte, mich zu erinnern, allerdings begann der heutige Morgen in meiner Erinnerung bereits zu verschwimmen, und eigentlich war ich auch viel zu müde, um mir jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich schnappte mir einen Apfelschnitz und knabberte lustlos an ihm herum, was ein leicht säuerliches Bitzeln auf meiner Zunge hinterließ. Um den gärenden Geschmack wieder loszuwerden, schob ich lustlos den labbrigen Rest Marmeladentoast hinterher und scannte, während ich kaute, die Küche nach meinem Kaffee ab.

Psychotherapie ohne Fachgedöns
  • Nike Hilber: Psychotherapie ohne Fachgedöns*: *wissenschaftlich fundiert, verständlich formuliert, hier erhältlich
  • 192 Seiten
  • erschienen bei: Kösel-Verlag

Was ich sah, trieb mir vor Verzweiflung beinahe die Tränen in die Augen. Geschirr türmte sich in wackligen Stapeln auf der Ablage über der Spülmaschine, die, bereits geöffnet, darauf wartete, von mir auf ewig aus- und wieder eingeräumt zu werden. Auf dem Herd standen noch die dreckigen Töpfe vom Vorabend, und in der Spüle stapelte sich alles, was sonst nirgends mehr Platz fand. Von meinem Kaffee allerdings keine Spur. Mein Blick fiel auf die über der Tür thronende, große runde Küchenuhr, und ich stellte stöhnend fest, dass ich schon wieder losmusste. Für einen kurzen Moment wollte ich die Zeiger der Uhr ausreißen und voller Wut zum stinkenden Abfall in den übervollen Mülleimer stopfen. Ich hatte es so satt, mich nach weiß Gott was allem, aber auf keinen Fall nach mir selbst zu richten. Ich fühlte mich wie eine Marionette, die im Sekundentakt von einem Termin zum nächsten gezogen wurde, ohne jegliche Möglichkeit, ihren eigenen Rhythmus zu finden. Widerwillig unterwarf ich mich dem machtvoll voranschreitenden Minutenzeiger und erhob mich schwerfällig.
Mit einem Zug leerte ich das halb volle Glas Milch und stellte es beim Hinausgehen zu dem restlichen dreckigen Geschirr. Dann fiel mein Blick auf die Kaffeemaschine, und direkt daneben, versteckt hinter einer frisch geöffneten Kilopackung Espressobohnen, stand meine Kaffeetasse. In Aussicht auf einen zwar sicherlich kalten, aber nichtsdestotrotz kraftspendenden Schluck Koffein griff ich erleichtert nach ihr und setzte sie an meine Lippen. Doch anstatt der heiß ersehnten Flüssigkeit umspülte nur kühle Luft meinen Gaumen. Die Tasse war leer. Für einen frischen Kaffee reichte die Zeit nicht mehr, also stellte ich die Tasse entnervt zurück, schnappte Geldbeutel und Schlüssel und verließ die Wohnung.
Seit mehr als einem halben Jahr ging ich einmal pro Woche zu einer Psychotherapeutin. Die Tatsache, dass ich seit einem Jahr alleinerziehend war, machte diesen Umstand zu einer organisatorischen Höchstleistung. Es war tatsächlich nur deshalb möglich, weil ich einen Kitaplatz für meine zweijährige Tochter Lara hatte ergattern können. Und ihr großer Bruder Nils besuchte seit diesem Jahr die erste Klasse in der Grundschule ums Eck. Zudem war mein Arbeitgeber, was Arbeitszeit und -ort anging, seit der Corona-Pandemie um einiges flexibler geworden. Nur deshalb konnte ich also einmal pro Woche die Zeit für eine knappe Stunde Psychotherapie aufbringen. Und das klappte natürlich auch nur dann, wenn gerade niemand von uns dreien krank war. Fingers crossed, beschwor ich stumm mein Schicksal
und machte mich, übermüdet und ohne Kaffee im System, auf den Weg.

»Dieses graue Wetter, der Regen, was für ein Trauerspiel die Natur gerade abzieht. Ich vermisse den Sommer, in dem ich die Kids einfach einpacken und auf den Spielplatz oder in den Park gehen kann …«, klagte ich meiner Therapeutin mein Leid, sobald ich ihr gegenüber Platz genommen hatte.
»Ja, das Wetter spielt Ihrer Situation wirklich nicht in die Karten«, sagte sie und blickte mich verständnisvoll an.
Ich versuchte, mir ein Gähnen zu verkneifen, und schwieg. Sie schwieg ebenfalls, was mich vor ein paar Monaten noch beunruhigt hätte. Doch mittlerweile hatte sich für mich die Qualität des Schweigens von bedrohlich-unangenehm zu einem Zustand des wohltuenden Innehaltens gewandelt. Diese Stille stand im krassen Kontrast zu meinem Alltag, und ich hatte mich erst daran gewöhnen müssen. Fühlte ich mich sonst eher wie eine Arbeiterbiene, die rund um die Uhr damit beschäftigt war, anderen zuzuarbeiten, durfte ich zumindest hier einmal gefühlt faul auf einer Blume rumhängen und meinen pelzigen, von Pollen bestäubten Körper in die Sonne halten. Diese geteilte Stille, in der ich im Gegensatz zu sonst keinerlei Verantwortung für mein Gegenüber trug – stattdessen wurde mir sogar etwas davon abgenommen! –, war für mich wie Nektar für die Bienen: ein wahrer Treibstoff für die Seele. Wir verharrten ein paar weitere Minuten schweigend, bis plötzlich ein Gedanke aus mir herauswollte.

»An was denken Sie gerade?«, riss mich meine Therapeutin aus meinen Gedanken.
»Ich will endlich ankommen. Wann ist das alles geschafft, ist es jemals geschafft? Wenn ich in den Spiegel schaue, dann sehe ich nur eine entkräftete, dicke Person mit Augenringen, die bis zum Bauchnabel reichen. Jeder Tag fühlt sich erneut an wie die Besteigung des Mount Everest, allerdings komme ich immer nur bis zur Hälfte und muss dann kapitulieren.«

»Wissen Sie, manchmal frage ich mich, warum ich mir das alles antue.«
»Was genau tun Sie sich denn an?«
»Keine Ahnung, diese ganze Schinderei … Von einem Termin zum nächsten hetzen, zwischendurch meinem Chef zuarbeiten, dann um 14 Uhr endlich Laptop zu und zack, zur Kita, Lara abholen, dann direkt zur Oma, Nils einpacken, und dann Kinderbetreuung, was noch mehr Arbeit bedeutet, nur halt andere. Natürlich macht das auch Spaß, und ich liebe meine Kinder, aber der ganze Haushalt … Da muss man gefühlt immer wieder von vorne anfangen. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte.« Ich rang einen Moment um Fassung, entschied mich dann aber dazu, die langsam aufsteigende Verzweiflung runterzuschlucken, und sagte mit einem Kloß im Hals: »Wissen Sie, mein Leben fühlt sich die meiste Zeit nach einem einzigen, riesigen Haufen Dreckwäsche an, den ich täglich Stück für Stück mühsam wegschaufeln muss, dabei aber nie, wirklich nie, fertig werde. Von der ganzen Arbeit habe ich vermutlich auch die immer wiederkehrende Sehnenscheidenentzündung in meiner rechten Hand, das ist zumindest die Einschätzung meiner Hausärztin. Aber es muss gemacht werden, und ich habe keine Ahnung, wie ich das ändern soll.« Ich hielt einen Moment resigniert inne und fuhr dann mit sehnsuchtserfüllter Stimme fort: »Beim Einschlafen stelle ich mir manchmal vor, wie ich auf dem Gipfel eines Berges sitze.«
»Wie sieht es auf dem Gipfel aus?«
»Ich bin dort nur von dem klaren Blau des Himmels sowie den wärmenden Strahlen der Sonne umgeben. Alles um mich herum ist absolut ruhig … Ab und zu streichelt ein Windhauch meine Wangen.«
»Was ist das für ein Gefühl, wenn Sie dort oben sitzen?«
Ich brauchte einige Zeit, bevor ich antworten konnte. Der Himmel, die Sonne, der Wind … So als ob jemand voller Liebe mit einer warmen Hand über meine Wangen strich. Diese Vorstellung ließ meinen Atem tiefer werden, und ich merkte, wie sich die kleinen Muskeln rund um meine Augenpartie ein wenig entspannten.
»Tröstend, also ein tröstendes Gefühl«, sagte ich und ließ für einen Moment das los, was ich sonst so verzweifelt zu kontrollieren versuchte. Ich erinnerte mich daran, dass mich meine Eltern als Kind regelmäßig auf Bergwanderungen mitgeschleppt hatten. Obwohl die Pfade durch Wälder und über Geröll oft mühsam und herausfordernd für mich waren, war es ein unbeschreibliches Gefühl, irgendwann oben zu stehen und »es geschafft « zu haben.
»An was denken Sie gerade?«, riss mich meine Therapeutin aus meinen Gedanken.
»Ich will endlich ankommen. Wann ist das alles geschafft, ist es jemals geschafft? Wenn ich in den Spiegel schaue, dann sehe ich nur eine entkräftete, dicke Person mit Augenringen, die bis zum Bauchnabel reichen. Jeder Tag fühlt sich erneut an wie die Besteigung des Mount Everest, allerdings komme ich immer nur bis zur Hälfte und muss dann kapitulieren.«
»Was machen Sie dann auf der Hälfte des Berges?«
»Keine Ahnung, es ist so, als ob ich mit letzter Kraft eine Windelfahne in die Höhe halte, auf der«, ich malte mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft, »Super-Mum draufsteht. Dann löst sich der Kleber der Windelfahne, sie öffnet sich und die ganze Scheiße wird vom Wind in alle Himmelsrichtungen verteilt.«
»Und dann?«
»Dann kommt garantiert von irgendwo eine Windböe und platsch, lieg ich wieder genau da, wo ich losgelaufen bin, am Fuß des Berges, mit meinem Gesicht im Dreck. Und alles geht von vorne los.«
»Sie wirken heute erregter als sonst.«
»Ja? Oje, war das zu viel? Tut mir leid, ich weiß nicht, was heute in mich gefahren ist, das ist so gar nicht meine Art«, ruderte ich zurück und senkte unangenehm berührt den Blick. Mir war heiß geworden, und ich versuchte, mir mit meiner rechten Handfläche die glühende Stirn zu kühlen. Meine Hände waren meistens kalt. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass mein Herz aus Trotz darauf verzichtete, die am weitesten von ihm entfernten Körperteile mit warmem Blut zu versorgen. Vielleicht war das seine Art zu sagen, dass es einfach nicht mehr genug Kraft hatte, um für eine ordentliche Blutzirkulation zu sorgen?
Meine kühle Hand ruhte gerade wohltuend auf der Stirn, als meine Therapeutin sich mit ruhiger Stimme erkundigte: »Warum entschuldigen Sie sich denn jetzt bei mir?«
»Na ja, war schon bisschen übertrieben von mir. So schlimm ist das gar nicht, ich bekomme das alles schon hin«, sagte ich verlegen und nahm die Hand wieder runter. Ich spürte die Augen meiner Therapeutin auf mir, doch ich konnte ihren Blick nicht erwidern. Irgendetwas in mir fühlte sich gerade sehr klein an, und was auch immer es war, es wollte auf keinen Fall gesehen werden. Ich versuchte, trotzdem den Kopf zu heben, aber der fühlte sich an wie ein zwanzig Kilogramm schwerer Betonsack, der die Stabilität meiner Nackenmuskulatur auf die Probe stellte. Kurz geisterte mir der Gedanke im Kopf herum, wie viel Gewicht meine Wirbel wohl noch aushalten konnten, bevor einer nach dem anderen dem Druck nachgab. Wie lange konnte meine Wirbelsäule einer imaginären Hydraulikpresse standhalten, bevor sie sich geschlagen geben und in hundert kleine spitze Knochenteile zersplittern würde? Ich wusste, was eine Hydraulikpresse war, weil mir mein Instagram-Algorithmus mal ein Video in meinen Feed gespült hatte, in dem eine solche Presse alle möglichen Sachen ganz langsam zerquetscht. Das anzuschauen hatte mich mit einer beängstigenden, aber beinahe genussvollen Zufriedenheit erfüllt.
Während ich mir gerade unfreiwillig vorstellte, wie es sich wohl anfühlte, wenn Knochensplitter die Muskulatur durchbohrten, sagte meine Therapeutin mit freundlicher, aber bestimmter Stimme: »Finden Sie nicht, dass Sie allen Grund dazu haben, sich über Ihre Situation aufzuregen?« …

#OHNEFACHGEDÖNS: AGGRESSIONEN

Gefühle, die mit Aggressionen einhergehen können, sind Wut, Ärger oder Zorn. Diese unangenehmen Gefühle sind nicht ausschließlich schlecht. Sie sind wichtige Hinweise, dass etwas nicht stimmt, zum Beispiel wenn jemand unsere Grenzen nicht wahrt oder uns schlecht behandelt. Sie liefern wertvolle Energie, wenn es darum geht, sich in schwierigen Situationen zu behaupten. Anstatt diese Gefühle also zu unterdrücken, können wir lernen, mit ihnen auf eine bereichernde Art und Weise umzugehen. Und zwar so, dass weder uns selbst noch anderen Schaden zugefügt wird.

#reflexionfürdich: Dein persönliches Sicherheitsnetz

Man kann sich die Abwehrmechanismen der Psyche auch wie ein Sicherheitsnetz vorstellen, wie es im Zirkus oder in Luftakrobatikshows zum Einsatz kommt. Die zu einem Netz gespannten Seile garantieren während der Vorführung Sicherheit und sorgen im Notfall dafür, dass die virtuosen Akrobatikkünstler:innen bei Fehlgriffen oder Fehltritten nicht haltlos in die Tiefe hinabstürzen, sich in der Folge lebensbedrohlich verletzen oder im schlimmsten Fall sogar tödlich verunglücken. Nach jedem erfolgreich vorgeführten Kunststück ist die Erleichterung des Publikums deutlich spür- und sichtbar. »Woaahhhhh … Ahhhh … Oooohhh … Puhhhh …« Noch mal gutgegangen!
So wie Akrobatikkünstler:innen durch ein Auffangnetz geschützt werden, verfügt auch die menschliche Psyche über ein Netz an Mechanismen, das schützt und stabilisiert. Dieses Netz sorgt ständig dafür, dass Menschen die Aufgaben, die das Leben an sie stellt, erfolgreich meistern können. Es gibt Halt und Orientierung. Es bildet eine Art flexible und durchlässige Barriere zwischen dem, was es braucht, um im Alltag zu funktionieren und das Leben zu meistern, und dem, was in der Tiefe schlummert und tendenziell Kraft rauben, verwirren, überfordern oder auch lähmen kann. […] Regelmäßig die eigene Wahrnehmung unter Berücksichtigung der Abwehrmechanismen zu reflektieren, kann inspirieren und dabei helfen, sich selbst und andere besser zu verstehen.

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