Er hat dich noch nicht mal angefasst
Elisa Mux

Buchauszug | Er hat dich noch nicht mal angefasst: Der Mythos Belästigung

Wo beginnt im beruflichen Alltag sexualisierendes, grenzverletzendes oder machtmissbräuchliches Verhalten? Wieso fällt es uns so schwer, sexuell belästigendes Verhalten zu erkennen und richtig einzuordnen? Wer sind eigentlich diese Täter? Gibt es so etwas wie einen Opfer-Typ? Und was können Arbeitgeber*innen tun, um Belästigung vorzubeugen? Hand aufs Herz: Wenn es um die Beantwortung all dieser (und vieler weiterer ähnlicher) Fragen geht, fällt uns eine eindeutige Antwort häufig gar nicht mal so leicht. Umso mehr gilt es, Macht- und Diskriminierungsstrukturen im Arbeitsleben aufzudecken. Genau das tut Franziska Saxler in ihrem Buch "Er hat dich noch nicht mal angefasst". Darin dokumentiert die Psychologin nicht nur, wie wir sexualisierte Belästigung und Machtmissbrauch im Job entlarven, sondern erklärt auch, wie wir uns davor schützen.

In diesem Artikel dürfen wir euch freundlicherweise einen Auszug aus dem Kapitel "Mythos Belästigung" vorstellen.

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Mythos Belästigung

Mythen über sexualisierte Belästigung sind weit verbreitete Annahmen, die nachweislich falsch oder zumindest höchst unwahrscheinlich sind und wirken, indem sie Belästigung rechtfertigen oder relativieren. Aussagen, die das empfundene Leid von Betroffenen kleinreden, gibt es leider wie Sand am Meer. »Da hat sie wohl nicht genug aufgepasst«, »Er hat sie doch noch nicht mal angefasst« oder »Die macht das nur für den Fame« gehören zu meinen liebsten. Obwohl diese Mythen nachweislich falsch sind, wirken sie als stark vereinfachte kulturelle Standards und Vorstellungen darüber, was Belästigung vermeintlich ist. Als solche erfüllen sie eine soziale und kognitive Funktion und sind daher zunächst normal. Wer kulturellen Skripten folgt und vereinfachte Bilder reproduziert, zeigt damit, dass die kulturellen Regeln verstanden wurden, und sorgt so dafür, nicht als Außenseiter:in wahrgenommen zu werden. Vor allem in Situationen voller Ambiguitäten, also Situationen mit hoher gefühlter Widersprüchlichkeit, helfen uns solche kulturellen Regeln und Vorstellungen über Männer und Frauen, uns miteinander abzustimmen und Unsicherheit zu reduzieren. Deshalb ist das Thema Belästigung so anfällig für Mythen.

"Bis heute stimmen Menschen Mythen über sexualisierte Belästigung zu und schätzen sie als »wahr« ein, obwohl sie per Definition falsch oder zumindest extrem unwahrscheinlich sind."

Er hat dich noch nicht mal angefasst
  • Franziska Saxler: Er hat dich noch nicht mal angefasst«: Sexualisierte Belästigung und Machtmissbrauch im Job - und wie wir uns davor schützen können, hier erhältlich
  • Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
  • erschienen bei: Ullstein Hardcover

Für viele sind Belästigungssituationen voller Ambiguität. Aussagen wie »Wie, der? Aber der ist doch voll erfolgreich!«, »Wieso hat die denn nichts gemacht, wenn es doch so schlimm war?« oder »Der ist sonst voll der Liebe, das war bestimmt nur witzig gemeint« zeigen das. Das Problem mit diesen Wiederholungen von vereinfachten Vorstellungen ist, dass unser Gehirn auf vereinfachte Wiederholungen abfährt, ganz egal, ob es Lügen sind oder nicht. Wenn wir uns wieder und wieder dieselbe Geschichte erzählen, nimmt mit jedem Mal die Leichtigkeit der Informationsverarbeitung zu (»Fluency-Effekt«). Unser Gehirn liebt das so sehr, dass sogar der wahrgenommene Wahrheitsgehalt einer Information steigt, je häufiger wir etwas hören (»Truth Effect«). Bis heute stimmen Menschen Mythen über sexualisierte Belästigung zu und schätzen sie als »wahr« ein, obwohl sie per Definition falsch oder zumindest extrem unwahrscheinlich sind. Die Forscherin Kimberly Lonsway hat mit ihren Kolleginnen im Jahr 2008 verschiedene Mythen über sexualisierte Belästigung kategorisiert, um daraus einen validen Fragebogen zu entwickeln. Hier ein paar Aussagen, die sich an diesen Mythen orientieren:

Es kann nicht so schlimm gewesen sein, sonst hätte sie ja was unternommen!

Das eine muss mit dem anderen nichts zu tun haben. Zwar stimmt es, dass die erlebte Schwere der Belästigung vorhersagt, ob Betroffene etwas dagegen unternehmen. Der Umkehrschluss ist aber nicht, dass es nicht so schlimm gewesen sein kann, wenn man nichts macht. Dafür kann es unzählige gute Gründe geben. Betroffene schämen sich oft für das, was ihnen passiert ist, geben sich selbst die Schuld und wissen, dass Verfahren wegen Belästigung zumeist chancenlos sind. Sie haben Angst davor, dass man ihnen nicht glaubt. Zudem befürchten sie, dass sie ihren Job verlieren könnten, und möchten es sich mit den Menschen an ihrem Arbeitsplatz nicht vermasseln.

Meistens übertreiben Frauen, die behaupten, belästigt worden zu sein.

Ganz im Gegenteil. Würden Frauen übertreiben, dann würden viel häufiger auch kleinere Fälle von Belästigung angezeigt werden. Dem ist aber nicht so. In der Regel muss extrem viel passieren, bis sich eine Person dazu entscheidet, etwas gegen missbräuchliches Verhalten zu unternehmen. Die meisten Betroffenen bagatellisieren das, was ihnen passiert, obwohl es sich negativ auf sie auswirkt. Die Forschung zeigt, dass nur zehn Prozent der Betroffenen von Belästigung diese überhaupt als solche anerkennen. Ob anerkannt oder nicht – Belästigung hat nachweislich schwerwiegende psychische und arbeitsbezogene Konsequenzen.

Wenn es so schlimm gewesen wäre, würde sie ja nicht mehr da arbeiten!

Es gibt unzählige Gründe dafür, dass Betroffene trotz der Umstände im Job bleiben. Finanzielle Sicherheit kann ein Grund sein oder ein starker Gerechtigkeitssinn und der damit verbundene Wunsch, nicht nachgeben zu wollen.

Er hat sie ja noch nicht mal angefasst!

Die allermeisten Fälle von sexualisierter Belästigung sind verbal. Das ändert nichts daran, dass sie schädlich sind.

Das hat er bestimmt nicht so gemeint, er war betrunken.

Das macht für die Person, die belästigt wurde, keinen Unterschied. Wir sollten alle die Konsequenzen für unser Verhalten tragen. Alkohol zu trinken ist ein Katalysator für Übergriffigkeiten. Männer, die zu sexualisierter Übergriffigkeit neigen, haben oft Probleme damit, die eigenen Emotionen gesund zu regulieren – vor allem die eigene Wut, Schuld und Scham. Alkohol ist ein Versuch, mit diesen Emotionen umzugehen, der das Problem jedoch verschlimmert. Deshalb ist es so wichtig, dass diese Männer lernen, gesunde Ventile für ihre Gefühle zu finden und die Verantwortung für sich selbst und ihr Verhalten zu übernehmen. Dass das Umfeld ihnen diese Verantwortung zurückgibt, selbst wenn sie sie selbst nicht übernehmen wollen, ist ein unvermeidlicher Schritt. Andernfalls wird das Schuldpaket wieder einmal falsch zugestellt – nämlich bei den Betroffenen, die unter den ungesunden Strategien der Belästigenden leiden.

Sie war betrunken, hätte sie halt besser aufpassen müssen!

Spannend, dass wir dasselbe Argument verwenden, um ihn zu entlasten und ihr die Schuld zuzuschreiben, oder?

Wer belästigt wird, hat das vermutlich provoziert.

Aussagen dieser Art verschieben die Schuldfrage und konnten bisher nicht belegt werden. Generell lassen sich keine Zusammenhänge zwischen den üblicherweise genannten Opfermerkmalen (etwa Kleidungsstil) und der Wahrscheinlichkeit, belästigt zu werden, finden. Aussagen, die solche vermeintlichen Zusammenhänge herstellen, werden unter dem Begriff Victim Blaming zusammengefasst. Es geht hierbei darum, dem Opfer die Verantwortung für die Belästigung zuzuschreiben. Das passiert bei sexualisierter Gewalt besonders stark im Vergleich zu anderen Delikten.

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