Chemotherapie Haarverlust

Chemotherapie-Diary: Die Sache mit dem Haarverlust und meinem neuen Turban-Ich

Im Juni habe ich zwei Hiobsbotschaften erhalten. Nummer 1: Ich bin am Brustkrebs erkrankt. Rumms! Nummer 2: Auf meiner Reise zurück in die Gesundheit werde ich eine Chemotherapie erhalten. Und nochmal Rumms! Denn auch wenn ich den medizinischen Aspekt und die potenzielle Superpower einer Chemotherapie von Anfang an verstanden habe und dankbar um die Möglichkeit dieser Behandlung bin, war da trotzdem ein Gedanke, der sich voller Panik in meinen Kopf einnistete: Ich werde meine Haare verlieren.

Wie bereitet man sich also darauf vor, seine kompletten Haare zu verlieren? Die Haare auf dem Kopf, die Wimpern, Augenbrauen … Gute Frage, next one please. Und so tauchte ich tagelang ab in mein von-vollem-Haar-zur-Glatze-Rabbithole. Bedeutet im Klartext: Ich habe mir gefühlt unendlich viele Videos von Frauen, die ihre Haare abrasieren, angesehen. Und so kam es, dass sowohl meine Instagram- als auch YouTube-Timeline (You got it, Algorithmus) nach kurzer Zeit komplett überflutet waren von Videos dieser Art. Einige von ihnen waren sehr emotional und mit entsprechender Musik unterlegt. Andere waren mutmachend, weil geweint, aber auch gelacht wurde. Oder es wurde nur gelacht. Kurzum: Genauso individuell wie die einzelnen Entscheidungen der Betroffen, mit diesem Moment umzugehen, waren auch die Videos und Herangehensweisen – und genau das zu erkennen, tat mir gut.

Mir war es wichtig, den Jetzt-kommen-die Haare-ab-Moment selbst bestimmen zu dürfen. Wenn ich mich schon fremdbestimmt der Tatsache fügen muss, meine Haare zu verlieren, will ich zumindest den Zeitpunkt bestimmen dürfen, wann der Trimmer zum Einsatz kommt. Und so rasierte ich mir an einem Montagnachmittag ziemlich spontan das kleine Köpfchen. Selbstbestimmt, alleine und voller Ruhe und Zufriedenheit. Denn tatsächlich hatte das Abrasieren meiner Haare etwas Befreiendes für mich. Endlich konnte ich einen Haken an diesen so gefürchteten Punkt meiner Ich-habe-Krebs-und-das-kommt-alles-auf-mich-zu-Liste machen. Wochenlang hat mich das mit den Haaren umgetrieben und um ehrlich zu sein: Als das büschelweise Ausfallen der Haare begann, verlor ich irgendwie jeden Bezug zu ihnen. Denn das, was bei jeder noch so kleinen Berührung aus meinem Kopf herausfiel, hatte nichts mehr mit dem zu tun, was ich „mein Haar“ nennen würde.

"Auch der Kauf einer Perücke stand auf meiner Ich-habe-Krebs-und-das-kommt-alles-auf-mich-zu-Liste. Bedeutet: Auch hinter diesen Punkt kann ich theoretisch einen Haken setzen. Theoretisch. Praktisch ist die Perücke unmittelbar nach dem Kauf in die tiefste Ecke meines Regals gewandert, um dort (vorerst) zu bleiben."

Es sind mehr als „nur Haare“

Glücklicherweise sind mir aus meinem Umfeld Sätze wie „Es sind doch nur Haare“ erspart geblieben und dafür bin ich sehr dankbar. Trotzdem fühle ich mit allen, die sich diesen Bemerkungen stellen müssen. Denn Haare sind mehr als „nur Haare“. Zumindest für mich und ich glaube, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage: für die meisten von uns. Denn neben dem, was sie mit Blick auf Optik und die eigene Identität für mich sind, ist die Sache mit den Haaren zudem mein persönlicher Gradmesser, der zeigt: Diese Frau ist krank und das ist der Grund, warum sie keine Haare mehr hat. Insofern habe ich an dem Tag, an dem ich meine Haare abrasiert habe, auch meine „optische“ Gesundheit verloren. Und noch etwas kam mir abhanden: der Schutz vor Blicken, Nachfragen und Erklärungen, den mir Haare bis dahin noch möglich machten. Seit diesem Tag bin ich eine erkrankte Frau, der man ihre Erkrankung auch ansieht.

Zur Wahrheit gehört natürlich auch, dass ich eine Perücke tragen könnte, um den besagten Blicken vorzubeugen. Ich besitze eine. Denn auch der Kauf einer Perücke stand auf meiner Ich-habe-Krebs-und-das-kommt-alles-auf-mich-zu-Liste. Bedeutet: Auch hinter diesen Punkt kann ich theoretisch einen Haken setzen. Theoretisch. Praktisch ist die Perücke unmittelbar nach dem Kauf in die tiefste Ecke meines Regals gewandert, um dort (vorerst) zu bleiben. Denn um ehrlich zu sein: Ich fühle sie nicht. Rein objektiv betrachtet, ist sie schön, keine Frage – aber subjektiv sind sie und ich kein Match. Das Kuriose: So sehr ich in den Begegnungen mit anderen erkrankten Frauen sie und ihre wunderschönen Perücken feiere und ihnen von Herzen kommende Komplimente um die Ohren werfe, sehe ich mich selbst nicht mit einer Perücke auf den Kopf. Ich bin es nicht. Ich erkenne mich damit nicht wieder. Ich fühle es aber genauso wenig, mit einer Glatze durch die Gegend zu laufen. Und so kam der Turban in mein Leben – und damit eine Lovestory, mit der ich niemals gerechnet hätte …

"Dieses gewickelte Tuch wird für mich immer dafür stehen, mit wie viel Mut, aber auch Stolz ich durch die wohl härteste Zeit meines Lebens gegangen bin und immer noch gehe. Es steht für die Strapazen der Chemo und die Challenge, sich von den eigenen Haaren trennen zu müssen. Und es steht für mich."

Mit dem Tragen eines gewickelten Turbans auf dem Kopf habe ich mich für einen Weg entschieden, den ich zu 100 Prozent fühle. Ich finde, der süße Turbi passt zu mir. Zu meinem Kleidungsstil. Zu meiner Art. Zu Lisa. Ja, das bin ich und vom ersten Moment an habe ich mich mit dem Turban gut und sicher gefühlt. Auch wenn das Tragen des Turbans bedeutet, den – nennen wir es mal – auffälligeren Weg gewählt zu haben. Ich sehe die Blicke fremder Menschen auf der Straße. Einige halten den Turban für ein Fashion-Statement und – und jetzt kommen wir zu dem Wunderbaren – sprechen mich an, um mir die süßesten Komplimente für den Turbi-Look zu machen (Ich liebe es, hört bloß niemals damit auf!). Andere wiederum schauen, manche glotzen. Das Fragezeichen steht ihnen ins Gesicht geschrieben, sie wissen nicht, was es mit diesem Ding auf meinem Kopf auf sich hat. Können sie ja auch nicht. Und während mir die einen solidarisch und bestärkend zunicken, brauchen die anderen einen Moment länger, um ihren Blick wieder von mir zu lösen und auch das ist vollkommen okay. Denn um ehrlich zu sein: Ich hatte gedacht, dass mir die Blicke fremder Menschen auf der Straße mehr ausmachen. Tun sie aber nicht. Denn – so wie es die Perücke bei der einen oder das Tragen der Glatze bei der anderen ist – ich fühle mich mit meinem Turban sicher. Er ist, aller Auffälligkeit zum Trotz, mein kleiner Schutzschild, mit dem ich mich wohlfühle.

Und so ist dieser Turban für mich tatsächlich zu einem Statement-Piece geworden. Sowohl in modischer Hinsicht als auch in Sachen Selbstliebe. Dieses gewickelte Tuch wird für mich immer dafür stehen, mit wie viel Mut, aber auch Stolz ich durch die wohl härteste Zeit meines Lebens gegangen bin und immer noch gehe. Es steht für die Strapazen der Chemo und die Challenge, sich von den eigenen Haaren trennen zu müssen. Und es steht für mich. Dafür, wie ich dieser Challenge begegne: mit Mut, einen Weg zu gehen, der sich für mich persönlich gut anfühlt – und ganz nebenbei mit vielen neuen Tüchern in meinem Besitz. Und übrigens: Die nie getragene Perücke werde ich bald einer gemeinnützigen Organisation spenden – in der Hoffnung, dass sie ganz bald ihr Perfect Match findet.

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