Das „Amorelie-Dilemma“: Von türkisen Steckenpferden und Schamgrenzen einer Mutter
„Mama, hast du einen alten Pappkarton für mich?“ Als mir meine Tochter kürzlich genau diese Frage stellte, war ich etwas gestresst und dachte einen kurzen Augenblick: „Ach, vielleicht einfach mal draussen ein bisschen Fussball spielen oder so?“ Aber das ging natürlich nicht. Meine Tochter rollte die Augen, Wackelzahn-Pubertät und so, ihr wisst schon. Sie hatte eine leere Kartonrolle gefunden und da musste eine Papp-Pferdekopf dran gebastelt werden. Klar!
Wie viele Sechsjährige steht sie auf Pferde und die Hörspiele von „Bibi und Tina“. Also musste ein Amadeus her. Jetzt. Sofort. Da ich mich zu diesem Zeitpunkt aber zwischen Dachboden und Keller befand und Winterjacken gegen Sommerkleider, alte Spielsachen gegen neuen Stauraum und Gerümpel gegen innere Ruhe tauschen wollte, rief ich nur schnell durchs Treppenhaus, dass auf dem Balkon unter der Bank bestimmt noch ein bisschen Altpapier liege.
„Der ist so schön türkis, Mama. Den muss ich gar nicht mehr anmalen.“ Und so kam es, dass auf dem Pferdekopf statt Amadeus klar und deutlich der Schriftzug von Amorelie stand und meine Tochter glücklich an mir vorbei in den Gemeinschaftsgarten unseres Mietshauses ritt.
Eine gute halbe Stunde später kam mir meiner Tochter mit ihrem neuen Steckenpferd entgegen. „Ich gehe jetzt draussen reiten, Mama.“ Triumphierend hielt sie ihren neuen Amadeus in die Höhe. Und mein einziger Gedanke war, ihr beim nächsten Mal doch selbst etwas zum Basteln aus dem Altpapier rauszusuchen. Denn mein Kind hatte sich zielsicher für den Karton eines Online-Sexshops entschieden. „Der ist so schön türkis, Mama. Den muss ich gar nicht mehr anmalen.“ Und so kam es, dass auf dem Pferdekopf statt Amadeus klar und deutlich der Schriftzug von Amorelie stand und meine Tochter glücklich an mir vorbei in den Gemeinschaftsgarten unseres Mietshauses ritt.
Kann ich meine Tochter nicht mit einem selbstgebastelten Pferdekopf durch die Nachbarschaft reiten lassen, der offensichtlich daraufhin weist, dass ihre Mutter etwas zu ihrer Befriedigung bestellt hat?
So schnell wie in dieser Situation war ich vermutlich noch nie die Stufen runter in Richtung Garten gesprintet. „Willst du das wirklich so lassen? Seit wann sind Pferde denn türkis?“, hörte ich mich fragen. Ich schoss ein paar wirklich gute Argumente aus der Hüfte, warum wir den Pferdekopf jetzt unbedingt noch anmalen müssten. Doch mein Kind zeigte sich von meinem plötzlichen Argumentationsreichtum wenig beeindruckt. „Nein, Mama, der ist super so.“ Da war nix zu machen. Ich zog mich also in meinen Keller zurück und hörte meine Tochter laut wiehernd durch den Garten reiten. Und während ich die Winterjacken verstaute, dachte ich über das nach, was gerade zwischen Altpapier und Bastelstunde passiert war: Bin ich verklemmt? Kann ich meine Tochter nicht mit einem selbstgebastelten Pferdekopf durch die Nachbarschaft reiten lassen, der offensichtlich daraufhin weist, dass ihre Mutter etwas zu ihrer Befriedigung bestellt hat? Ich kenne ehrlich gesagt niemanden in meinem Freundeskreis, der:die genau das nicht tut. Singles für sich, Paare miteinander, frisch verliebt, seit Jahren verheiratet. Ich denke, in die meisten Schlafzimmern um mich herum ist inzwischen das ein oder andere Gadget aus besagten türkisfarbenen Pappkartons eingezogen und wird dort auch benutzt. Mit meinen engsten Freund:innen tausche ich mich darüber auch aus – aber natürlich nicht mit meinen Nachbarn oder den Erzieherinnen meiner Tochter, bei denen sie morgen früh vermutlich ihren „Amadeus“ in der Garderobe abstellen wird.
Was mache ich jetzt? Animiere ich mein Kind später noch zu einem wirklich 1A-naturgetreuen Pferdekopf oder lasse ich es einfach laufen? Bin ich verklemmt, prüde, konservativ, habe ich ein gesundes Empfinden für meine Privatsphäre, bleibe ich entspannt, achtet sowieso niemand drauf und sollte ich schlichtweg provokant damit umgehen? Oder ist all das ohnehin das Selbstverständlichste der Welt und all diese Fragen gar nicht mehr wert im Jahr 2022?
Bevor ich mir eine Meinung bilden konnte, kam meine Tochter zurück in die Wohnung zurück und bastelte weiter. Amadeus sieht jetzt aus wie ein richtiges Pferd. Mit einem braun angemalten Kopf und ganz ohne verspielte Amorelie-Schriftzüge. Und irgendwie bin ich tatsächlich ein bisschen wehmütig, wenn ich mit meiner Tochter und Amadeus-Amorelie an der Supermarktkasse stehe … Immerhin wäre das Ganze ja auch eine Chance gewesen, Lust und sexuelle Selbstbestimmtheit in meinem Umfeld in ein total normales Licht zu rücken. Ein Licht, das die Privatsphäre wahrt, aber bei dem wir uns vielleicht ein kleines, wissendes Zwinkern in der Warteschlange beim Bäcker zu werfen, während unsere Kinder auf ihrem Steckenpferd zu einem Ausritt aufbrechen …
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