Im Gespräch mit Autorin Sarah Diehl: „Mutterschaft ist Teil der Leistungsgesellschaft geworden“
Will ich eigentlich Kinder haben? Wer sich diese Frage in seinem Leben schon einmal gestellt hat, weiß vermutlich, welche Gedanken, Ängste und vielleicht auch Zweifel durch sie ausgelöst werden können. Sarah Diehl lebt kinderwunschlos glücklich und hat über "Die Uhr, die nicht tickt" nicht nur ein Buch geschrieben, sondern führt gemeinsam mit Anna Schmutte Frauen, die bei der Kinderwunschfrage ihren eigenen Weg suchen, durch Seminare. Wir haben uns mit Sarah unterhalten und dabei nicht nur gelernt, wie die Seminare ablaufen, sondern zusammen mit der Autorin mit dem Mythos aufgeräumt, dass Mutterschaft vor Einsamkeit schützen kann …
1000 Dank für deine ehrlichen Worte, liebe Sarah!
Liebe Sarah, in euren Seminaren helft ihr Frauen, die mit der Kinderfrage hadern. Welcher Herausforderung begegnen unentschiedene Frauen in diesem Zusammenhang am häufigsten?
Mögliche Reue, Einsamkeit, Partnerschaft, Probleme mit der Herkunftsfamilie, mangelndes Selbstvertrauen, da ist alles dabei, denn an die Kinderfrage docken so viele Lebensfragen und emotionale Bedürfnisse an. Aber deshalb sind die Seminare auch immer so toll, weil da so vieles auf den Tisch kommt und die Teilnehmerinnen sich auch so viel heilsame Perspektivwechsel geben können, gerade, weil sie zu verschiedenen Wünschen tendieren.
Lass uns über die sprichwörtliche Mutter der übergriffigen Fragen sprechen: „Na, wann bekommst du denn endlich mal ein Kind?“ Wird es jemals aufhören, dass Mutterschaft als Teil unserer Leistungsgesellschaft gesehen wird?
Genau, meine These ist, dass Mutterschaft Teil der Leistungsgesellschaft geworden ist. Man muss sich klar machen, dass sich patriarchale Strukturen auch immer wieder neu erfinden, damit Frauen immer noch als das unbezahlte Fürsorgepersonal in der Kleinfamilie funktionieren. Heute haben wir aber andere Ideale, die uns unterdrücken und normieren, zum Beispiel Perfektionismus in der Mutterschaft, , der aber den Frauen oft sogar freigewählt erscheint, und die Psychologie des Kindes. Es gibt diese Vorstellung: Du musst als Mutter wirklich alles und selbstlos geben, du bist verantwortlich für einen anderen Menschen und wenn der verkorkst ist, bist du daran schuld. Die ganze Verantwortung für die psychologische Entwicklung eines Kindes wird den Müttern angelastet. Das macht Frauen immens erpressbar, und es bindet Frauen in ihren Kapazitäten und ihrem Selbstbewusstsein, sich Freiräume abseits der Kleinfamilie zu nehmen, enorm. Frauen internalisieren diesen Druck als Selbstverwirklichung und bauen massiven Druck auch untereinander auf. Das Zuhause, das Kind ist wichtiger als mein Job, meine Freiräume, meine eigenen Bedürfnisse. Und somit bilden Frauen eine unbezahlte Ressource der unbezahlten Fürsorgearbeit. Es macht mich wütend, wie sehr Frauen ihr Selbstbewusstsein und Selbstbestimmungsrecht durch die Idealisierung von Mutterschaft kaputt gemacht wird.
Sarah Diehl:
Die Uhr, die nicht tickt
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Wie können Frauen sich von diesen gesellschaftlichen Erwartungen lösen?
Das Gute an unseren Seminaren ist, dass wir kulturwissenschaftliche und soziologische Aspekte ebenso berücksichtigen, wie biografische und sehr individuelle emotionale Aspekte. Ich halte diese Kombination für unschlagbar, weil sie alle Aspekte des Leben mitdenkt: individuelle wie auch systemisch.
Deshalb verbinde ich in meiner Arbeit schon immer so gerne Theorie mit Praxis. Vor zehn Jahren habe ich viel darüber geschrieben, wie und warum der Schwangerschaftsabbruch so stigmatisiert ist und gleichzeitig habe ich die NGO Ciocia Basia/Tante Barbara gegründet, die Frauen aus Polen hilft, sichere Abtreibungen in einer freundlichen Atmosphäre in Berlin zu bekommen.
Als ich dann in den letzten Jahren mit meinem Buch „Die Uhr, die nicht tickt. Kinderlos glücklich“ unterwegs war, haben mir viele Frauen erzählt, wie sehr ihnen das Buch geholfen hat. Frauen sprachen mich nach Lesungen an, schreiben mir auf Facebook, fragen mich nach Rat und regten dazu an Workshops zu geben, um das auch auf einer individuellen Ebene lösen zu können. Ich dachte dann auch: Wir brauchen mehr Zeit als eine Lesung, um dieses Riesengeflecht von Ängsten, Idealbildern und Klischees auseinanderzuklamüsern.
Da ich selbst Kulturwissenschaftlerin und keine Therapeutin bin, hatte ich da Zweifel, so etwas alleine anzubieten. Dann habe ich Anna Schmutte kennengelernt, sie ist Körpertherapeutin und systemische Therapeutin und Coach. Wir ergänzen uns wunderbar, also haben wir gesagt, wir machen das jetzt zusammen. Anna ist übrigens mit 43 Mutter geworden, sodass wir beide Erfahrungen dabeihaben.
Nimm uns kurz mit in eure Seminare: Wie laufen eure Kurse ab?
Wir wollen die Frau dahin leiten, sich selbst zu vertrauen. Am Ende gibt sie sich die Antwort immer selbst. Wir helfen, den ganzen Ballast, der mit dem Kinderthema verbunden ist, zu sortieren oder auch abzuwerfen. Es wird aber nicht nur gesprochen, sondern durch Körperübungen und Mediationen geben wir auch dem intuitive und körperliches Wissen Raum. Wir fragen: Was für ein Selbstbild habe ich? Was für eine Beziehungen habe ich zu mir und zu anderen und warum. Was traue ich mir zu? Wie viel Selbstliebe ist da? Bin ich mir genug?
Wir machen Wochenend-Seminare in Berlin. Mittlerweile reisen viele Frauen auch dafür an, aber das können sich natürlich nicht alle leisten. Deshalb bieten wir die Inhalte des Präsenzseminars nun auch als Onlinekurs an, was den Vorteil hat, dass Frauen das alles in Ruhe und ihrem eigenen Tempo durchdenken kann.
In den Erzählrunden ist es wirklich überwältigend, zu sehen, wie viel Druck allein schon durch einen ehrlichen Austausch von den Frauen abfällt. Deshalb bieten wir auch beim Onlinekurs zwei Livecalls an, wo Teilnehmerinnen sich mit uns austauschen können. Übrigens sind alle Menschen willkommen, egal zu was sie tendieren, ob sie fast entschieden sind oder total ambivalent. Gerade der Austausch ist so heilsam und auch das Gefühl, das keine Seite gegen die andere ausgespielt wird.
"Entgegen dem Klischee, ist es oft so, dass die Männer klarer Kinder wollen und die Frauen sich nicht sicher sind. Da sehen wir oft, dass das Mental Load Thema schon beginnt, bevor die Kinder überhaupt da sind."
Sprechen wir von einem Szenario, für das es keinen Kompromiss gibt: wenn in einer Partnerschaft unterschiedliche Wünsche in Bezug auf das Thema Kinderkriegen geäußert werden. Begegnet ihr im Rahmen eurer Arbeit vielen Paaren, die sich in der Kinderfrage uneinig sind?
Ja und entgegen dem Klischee, ist es oft so, dass die Männer klarer Kinder wollen und die Frauen sich nicht sicher sind. Da sehen wir oft, dass das Mental Load Thema schon beginnt, bevor die Kinder überhaupt da sind. Denn viele Frauen haben den Eindruck, dass die Männer viele blinde Flecken haben, darüber, welche Schwierigkeiten in der Familienplanung kommen, während die Frauen das Gefühl haben, sich gegen alles absichern zu müssen und alles zehnmal zu durchzudenken.
Wir setzen auf ehrliche Kommunikation der Bedürfnisse und Ängste und dass die Frauen klar einfordern: „Mach du als Mann dir mal Gedanken, wie du dir konkret Kinderbetreuung und Haushalt vorstellst und sag nicht einfach: „Das wird schon …“ Denn sie wissen, dass bei „Das wird schon …“ am Ende doch unterschwellig von ihr erwartet wird, alle Probleme auszugleichen. Das haben wir sehr oft, dass Teilnehmerinnen verzweifeln über ihre Partner, obwohl sie eigentlich sehr liebevolle, gute Beziehungen führen. Da ist die Angst, dass der Mann Elternschaft unterschätzt – und dass er vor allem unterschätzt, was Mutterschaft für die Frau bedeutet. Es gibt auch immer wieder positive Beispiele von Männern, die sich viele Gedanken machen und die auch zu Hause bleiben wollen, aber 80 Prozent des Mental Loads liegt immer noch bei den Frauen – das sehe ich in unseren Seminaren ganz klar.
Wir haben aber auch Frauen, die sehr glücklich sind über ihre kinderlose Partnerschaft und nur mit dem Bild hadern, dass etwas fehle oder sie „ihre Beziehung auf die nächste Schwelle bringen“ müssen durch Familienplanung. Dann kommen wir auch darauf, wie toll es eigentlich auch ist, wenn Partner sich entscheiden „Du bist mir genug und ich möchte meine Liebe auf dich konzentrieren, möchte Zeit und Raum für uns, das ist für uns wertvoller als eine Familiengründung, auch gegen die Erwartungshaltung von außen.“ Weil wir so viele Anfragen diesbezüglich bekommen, arbeiten wir nun auch an einem Paarkurs, den wir ab Herbst anbieten.
„Und wer kümmert sich dann um dich, wenn du alt und einsam bist?“ ist eine weitere typische Reaktion, die selbstbestimmt kinderlos lebende Frauen nur zu gut kennen. Was sind deine Gedanken zu dem Mythos, dass Mutterschaft vor Einsamkeit retten kann?
Viele Frauen wünschen sich Gemeinschaft und nehmen – unbewusst – an, sie könnten diese nur über ein Kind herstellen, da die Mutter-Vater Kind-Kleinfamilie eben auch bedauerlicherweise die Form von Gemeinschaft ist, die seit 300 Jahren erwünscht und gefördert wurde. Das hat nichts mit Natur zu tun, sondern mit politischen und wirtschaftlichen Interessen, wie eine auf Leistung fokussierte Arbeitswelt auszusehen hat. Viele befürchten, ohne Kinder allein zu enden oder aus der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden, wenn alle anderen um sie herum Kinder bekommen, nur sie nicht. Die Angst vor Isolation und Einsamkeit ist das größte Druckmittel.
Deshalb klären wir in unseren Seminaren auch, ob man wirklich ein Kind will, oder das vor allem glaubt, weil man glaubt nur so Gemeinschaft herstellen zu können. Wir sprechen dann auch über soziale Elternschaft. Kann man ein Leben mit Kindern auch mit Freunden realisieren und ohne eigenes biologisches Kind? Lässt sie sich anders gestalten, außerhalb der Norm? Da gibt es eine große Sehnsucht, Gemeinschaft weg von der Kleinfamilie zu kreieren.
Die Angst vor der Einsamkeit ist ein großer Faktor in der Kinderfrage …
Die Angst vor Einsamkeit gibt es aber auf beiden Seiten. Frauen, die zur Mutterschaft tendieren, haben Angst vor der Einsamkeit innerhalb ihrer Familie. Weil sie sich verlieren in der Mutterschaft, weil sie verschwinden in der Familie und ihre Freunde und Freizeit verlieren.
Das Bild der kinderlosen Single-Frau wird oft negativ gezeichnet und immer mit Einsamkeit verbunden. Dabei ist es oft umgekehrt: Mütter, die mit den Kindern zu Hause bleiben, beklagen, dass sie kaum noch etwas von der Welt mitbekommen, während Single-Frauen oft einen großen Freundeskreis haben und sehr aktiv leben. Frauen wurden gerade dort vereinsamt, wo wir Gemeinschaft vorgeben: in der Familie.
Eben um diese ganzen Missverständnisse über Einsamkeit aufzudröseln und Frauen auch die Angst zu nehmen, ganz eigene Wege zu gehen (z.B. auch allein zu reisen, was ich für extrem heilsam halte) und auf ihre Bedürfnisse zu hören, habe ich jetzt das Buch „Die Freiheit, allein zu sein“ geschrieben. Das war auch wie ein Weiterdenken von "Die Uhr, die nicht tickt", in dem ich mich mit dem Thema des Alleinseins aus ganz verschiedenen Perspektiven der Politik, der Soziologie, aber auch der Künste, der Kreativität und der Sinnlichkeit auseinandersetze und ermuntere, es als produktiven Erfahrungsraum zu betrachten. Das hat mit Singlesein übrigens nicht unbedingt was zu tun, sondern ich sehe mir auch an, wie man gerade in der Partnerschaft konstruktive Freiräume gestalten kann.
Politik und Wirtschaft vermitteln das Bild, dass Frauen erst als beruflich erfolgreiche Mütter etwas wert sind. Wie erklärst du es dir, dass auf dieser Annahme noch immer eine ganze Ökonomie basiert? Immerhin wird somit ein schier unendlich großer Erwartungsdruck bei Frauen aufgebaut …
Ich glaube, dass wir als Gesellschaft – bewusst oder unbewusst – Angst davor haben, dass die Frau als Ressource, die unbezahlte Fürsorgearbeit leistet, wegfällt. Wenn Frauen als das unbezahlte Personal der Kleinfamilie wegfallen, würde das bedeuten, dass ganz viel Arbeit, die umsonst geleistet wird, so nicht mehr funktioniert. Und dass die ganze Care Arbeit überhaupt als Arbeit anerkannt werden müsste. Das Konzept der 40-Stunden-Woche kann nur funktionieren, wenn du jemanden Zuhause hast, der dir den Haushalt und die Kinderbetreuung abnimmt. So wurde die Kleinfamilie kreiert mit der Mutter als unbezahltes Dienstpersonal. Der Arbeitgeber kann nur so viel Zugriff auf den Mann haben, wenn er Zuhause jemanden hat, der unbezahlt diese ganzen Arbeiten leistet. Care Arbeit wurde unsichtbar gemacht, weil sie als angeblich naturhaft den Frauen zugeschoben wurde. Das sagt die feministische Ökonomiekritik: Alles, was der Kapitalismus umsonst haben möchte, erklärt er zur Natur, die er einfach so ausbeuten darf, ohne was zurückzugeben. Es geht um Werte und Ideale, die man an daran gekoppelt hat: Frauen sind zuständig für die Liebe, für die Wärme, für die Alten, für die Kinder, für alles Soziale – das ist ein wichtiger Kit für die Gesellschaft. Viele Frauen wollen es nicht mehr akzeptieren, dass sie sich „naturhaft“ kümmern und alles so nebenbei machen. Jede Form von Care Arbeit ist wichtig – und wir müssen sie gesamtgesellschaftlich leisten. Das muss auch der Arbeitsmarkt berücksichtigen. Die heutige Gesellschaft verlangt, dass wir alles genauestens durchorganisieren. Wir müssen unser Leben komplett nach Lohnarbeit, Karriere und finanzieller Absicherung ausrichten. Daran ist alles gekoppelt, auch unser Selbstwertgefühl. Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, in der wir es uns gar nicht mehr leisten können, Leben einfach fließen zu lassen. Deswegen müssen Frauen alles durchtakten. Und ja, das ist bedauerlich. Die Beobachtung stimmt, das Bedürfnis von Frauen ist stark, sich nach allen Seiten abzusichern, damit die einzelne Frau in unserer unsolidarischen Welt nicht komplett untergeht. Natürlich geht das nicht mehr ohne Burn Out vonstatten.
Sarah Diehl:
Die Freiheit, allein zu sein
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Sind Frauen, die sich für ein Leben ohne Kinder entscheiden, gewissermaßen ein Störfaktor in diesem ökonomischen Gefüge?
Nicht ganz, denn unsere Arbeitswelt hat auch ein Interesse daran, dass Frauen dem Arbeitgeber komplett zur Verfügung stehen. Es gibt auch feministische Theorien, die meinen, dass der Umstand, dass Arbeitgeber ein Interesse an weiblicher Arbeitskraft hatten, auch ein Faktor war, der die Frauenbewegung überhaupt in dem Masse zuließ. Aber jetzt müssen Frauen zwischen Pest und Cholera entscheiden, wollen sie sich in der Arbeitswelt oder im Familienleben ausbeuten lassen oder wie oft, in beiden. Aber versteh mich nicht falsch: Kinder haben und tätig sein, ist an sich wunderbar. Ich spreche aber von den ökonomischen und politischen Vorgaben, in die das hineingezwängt wird, wo es nur um Effektivität, Wettbewerb und Profit geht und unsere menschlichen Bedürfnisse als Störfaktor gesehen werden.
Dem Kult um den Muttermythos hast du dich unter anderem in deinem Buch „Die Uhr, die nicht tickt“ gewidmet. Mit dem Buch möchtest du Frauen von ihren Schuldgefühlen, die sie aufgrund ihrer Gebärfähigkeit eingetrichtert bekommen, befreien …
Viele Frauen, die zu uns kommen und sich Kinder wünschen, haben Angst vor dem überbordenden Mutterideal. Selbstbestimmung und die Freiräume der Emanzipation sind nicht mehr so einfach lebbar, wenn Kinder kommen. Es braucht viel Mut und Selbstbewusstsein, um sich von den Bildern zu lösen, die unsere Gesellschaft von der perfekten Mutter zeichnet. Da kommen schnell Zweifel auf: Schaffe ich es, Mutterschaft selbst zu gestalten? Kann ich mich in meiner Partnerschaft durchsetzen, damit Elternschaft wirklich gleichberechtigt gelebt wird? Wird meine Partner:in genug Verantwortung übernehmen? Werde ich Abstand von dieser Idealvorstellung behalten können? Wir möchten Frauen ebenso helfen, sich nicht zu kritisch und hadernd von Mutterschaft zu distanzieren, sondern ermutigen, diese lustvoll nach ihren Bedürfnissen gestalten zu können.
Die selbstbestimmt kinderlos lebende Frau wird häufig in eine Schublade voller Klischees gesteckt. Sie gilt als narzisstisch und karrierefixiert. Wie werden wir dieses Bild endlich gerade rücken können?
Kinderlose Frauen werden in unserer Gesellschaft immer noch als irgendwie kaputt dargestellt, sie sind gefühlskalt, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, dass sie keine oder weniger Liebe in sich tragen, egoistisch sind. Es ist schwer, sich damit zu identifizieren. Was macht es mit meinem Selbstbild, wenn ich mich für die Kinderlosigkeit entscheide? Es gibt da auch viel Sprachlosigkeit, weil Bilder fehlen, das als nicht defizitär zu beschreiben. Vieles im Frauenleben wurde mit Schamgefühlen besetzt, damit Frauen nicht darüber sprechen können, wie es ihnen wirklich geht.
Es ist irre, wie viele Frauen ihre Liebesfähigkeit infrage stellen, nur weil sie nicht den Drang haben, einem Kind Liebe zu geben. Frauen vertrauen ihrem eigenen Gefühl nicht, weil alle Welt dir sagt, dass du etwas konkret anderes fühlen musst. Warum habe ich dieses Bedürfnis nicht, wenn alle mir doch sagen, dass es da sein müsste? Ist da vielleicht etwas verschüttet? Die Kinderfrage ist eine wahnsinnige Projektionsfläche, Frauen nehmen sich regelrecht auseinander, bilden sich tausend Dinge ein. Und genau das wird ihnen auch aufgedrängt: Sie müssen ja einen Knacks haben, wenn sie keine Kinder wollen. In unserem Seminar geht es viel darum, sich zu akzeptieren mit den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen. Das bin ich, das entspricht mir und das hat nichts mit einem Fehler zu tun, sondern mit der wundervollen Komplexität des Lebens. Kinderlose Frauen sind nicht liebesunfähig – sie wollen ihre Liebe anders gestalten, als in der Kleinfamilie. Viele Frauen sagen auch, dass sie sich ohne Kinder viel mehr sozial engagieren können oder viel besser Tanten sind. Ich sage immer: Die Vorstellung von bedingungsloser Liebe konzentriere ich nicht auf ein Kind, sondern auf die Menschheit allgemein.
Hättest du dir selbst auch Unterstützung in Form von Seminaren gewünscht oder wusstest du stets deine persönliche Antwort auf die Kinderfrage?
Ich hatte immer eine Klarheit in mir, dass ich das nie mit mir verhandeln musste. Aber diese Klarheit muss gar nicht sein. Viele Frauen denken, der Kinderwunsch muss absolut und immer gleich und stabil sein, weil er sozusagen so essenziell ist und ihre Persönlichkeit ausmacht. Der Kinderwunsch ist aber nicht absolut in deiner Seele, deiner Identität verankert. Er kann für immer stabil sein, muss aber nicht. Es ist ok, dass er sich aufgrund äußerer Bedingungen (z.B. finanzielle und soziale Sicherheit, Veränderung in Partnerschaft, neue Interessen, die man kinderfrei oder als Mutter besser ausleben kann) sich schwächer oder stärker anfühlen kann.
"Wir hatten sogar schon einige Frauen, die eine Beförderung nicht angenommen haben, obwohl sie zur Kinderfreiheit tendieren, weil sie dachten, was wenn ich in zwei Jahren doch aus Angst vor Reue Kinder bekomme, dann wäre das dem Arbeitgeber gegenüber unverantwortlich."
Der Klassiker, dem Frauen während der Kinderfrage begegnet, ist der Gedanke „Was, wenn ich meine Entscheidung irgendwann bereue“. Kann man den Frauen diese was-wäre-wenn-Angst wirklich final nehmen?
Der Angst der Reue gehen wir natürlich besonders gerne an den Kragen, denn sie ist eines der größten manipulativen Druckmittel, die unsere Gesellschaft noch parat hat, um Frauen weis zu machen, dass sie lieber auf Nummer sicher gehen und Kinder bekommen, bzw. in ihren 30ern faule Kompromisse für die Familienplanung eingehen, die sie behindern. Wir hatten sogar schon einige Frauen, die eine Beförderung nicht angenommen haben, obwohl sie zur Kinderfreiheit tendieren, weil sie dachten, was wenn ich in zwei Jahren doch aus Angst vor Reue Kinder bekomme, dann wäre das dem Arbeitgeber gegenüber unverantwortlich. Man kann eine Entscheidung bedauern, aber man weiß um gute Gründe für diese Entscheidung und selbst wenn man mit 60 mal einen Tag hat, an dem man die Mutterschaft oder Kinderlosigkeit bereut, kann man sich klarmachen, dass man vielleicht allgemein gerade unzufrieden ist und das nicht nur an der Kinderfrage abarbeiten kann, bzw, dass diese Gefühle sich eben nach Tagesform auch ändern und das ist ok. In unseren Seminaren wollen wir nicht nur final klären, ob eine Frau Kinder will oder nicht, sondern ihr ein Gefühl dafür geben, dass, auch wenn sie ambivalent bleibt, dies eine Chance ist, weil sie offen ist für das, was das Leben bringt und in beiden Fällen viel Handlungsspielraum für ein zufriedenes Leben besteht. Und das ist auch tatsächlich der Mehrwert, mit dem ganz viele Frauen aus dem Seminar gehen, dass sie sich von dem Gefühl befreien konnten, dass mit der Kinderfrage ihr ganzes Leben steht oder fällt. Da bekommen wir immer viel Dank, das freut uns.
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