Stalking Angst
Unsplash/Vadim Bogulov

„Die Angst ist nur in deinem Kopf“ – danke, können wir jetzt trotzdem aufhören, Stalking und versuchte Übergriffe zu verharmlosen?

Wir lesen immer wieder davon: Übergriffe und versuchte Übergriffe auf Frauen und was wir tun können, um uns zu schützen. Überhaupt gibt es viele Texte zu dem Thema – und dennoch nicht genug. Denn die Frage nach der Schuldzuweisung in solchen Situationen ist leider immer noch zu tief verankert. Deshalb schreibe ich heute aus meiner ganz persönlichen Erfahrung mit einem bedrohlichen Erlebnis - und damit gleich zu Beginn direkt mal ein großes: Sorry, liebe (vorrangig) Männer, aber wieso zur Hölle müssen wir ernsthaft noch darüber diskutieren, ob die Angst berechtigt ist, wenn außer einem Schrecken „nichts weiter“ passiert ist?

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Ich ziehe die Vorhänge zu und prüfe zweimal, ob auch bloß kein Spalt mehr offen ist, durch den von außen das Zimmer eingesehen werden kann. Nicht-blickdichte Vorhänge machen mich inzwischen nervös, und meine Sachen hänge ich auch tagsüber zum Trocknen nicht mehr auf den Balkon, sondern ins Badezimmer. Keine Brotkrümel streuen, die darauf hinweisen könnten, dass ich allein in diesem Zimmer wohne. Eigentlich liebe ich große Fensterfronten, mittlerweile rufen sie in mir ein mulmiges Gefühl hervor. Bevor ich ins Bett gehe, positioniere ich das Hoteltelefon neben meinem Kopfkissen, sodass ich Hörer und Tasten innerhalb von Sekunden mit einem Handgriff im Schlaf erreichen kann. Die kleine Nachttischlampe bleibt an, auch wenn ich weiß, dass ich im Dunkeln besser schlafe, aber es gibt mir immerhin ein kleines Gefühl der Sicherheit.

Das ging in mir vor, als ich diese Woche zum ersten Mal seit sechs Monaten wieder alleine verreist bin und in einem Hotel übernachtet habe. Eigentlich nichts Besonderes, für mich aber eine ziemlich große Sache, weil ich auf meiner letzten Reise mehrere Wochen lang von einem Stalker verfolgt wurde – und das hat Spuren hinterlassen. So richtig wollte ich mir wohl nicht eingestehen, dass diese Erfahrung noch immer tief sitzt, weil ja am Ende alles „gut“ gegangen ist. Gut gegangen in dem Sinne, dass mir körperlich nichts passiert ist.

"Ich reise seit 14 Jahren allein, liebe es, allein in Restaurants, Bars und Cafés zu gehen. Aber seit diesem Vorfall merke ich, wie ich den Raum anders scanne, wenn ich eine Bar betrete. Wie mein erster Impuls nach einem Platz sucht, an dem ich alles im Blick habe, aber dennoch etwas versteckt sitze. "

Trotzdem: Wenn du eine halbe Nacht mit Messern in der Hand auf der Innenseite der Wohnungstür deines Apartments kauerst, weil du nicht sicher bist, ob die Person, die dir bis vor die Haustür gefolgt ist, ebenfalls Waffen hat oder plant, jeden Moment durch die Tür hindurchzubrechen, dann ist das ein Erlebnis, was das Unterbewusstsein nicht so schnell vergisst. Überhaupt kannst du in solchen Momenten ziemlich schlecht unterscheiden, was tatsächliche Bedrohung und was innere Panik ist – oder, um es in den Worten eines Bekannten zu sagen, dem ich am nächsten Tag von dem Vorfall erzählte, was eine „übertriebene Reaktion“ ist.

Wieso wir aufhören müssen, in „schlimm“ und „nicht schlimm“ einzuordnen

Ich reise seit 14 Jahren allein, liebe es, allein in Restaurants, Bars und Cafés zu gehen. Aber seit diesem Vorfall merke ich, wie ich den Raum anders scanne, wenn ich eine Bar betrete. Wie mein erster Impuls nach einem Platz sucht, an dem ich alles im Blick habe, aber dennoch etwas versteckt sitze. Ich passe auf, wenn ich mit Fremden ins Gespräch komme, bedacht, nicht zu viel preiszugeben. Ich mache mir sogar Gedanken darüber, ob meine Kleidung zu auffällig, im Dunkeln zu hell erkennbar ist, falls ich mich wieder allein auf den nach-Hause-Weg mache. Alles Dinge, über die ich vorher nie nachgedacht habe. Ich erwische mich sogar dabei, wie ich mir permanent meinen Partner an die Seite wünsche, weil ich mich irgendwie viel sicherer fühle, wenn er neben mir liegt. Das kann man jetzt alles als „Kleinigkeiten“ abtun, aber für mich ist das ein riesiger Einschnitt in meine Freiheit. Das alles bin nicht ich, das ist die Angst, die durch diesen Vorfall wachgerüttelt wurde. Kein anderer Mensch sollte je die Macht haben, die Art, uns frei zu bewegen, so einzuschränken. Aber seit dieser Erfahrung vor sechs Monaten fällt es mir wirklich schwer, unbeschwert allein zu reisen.

Aber, solange nichts „Schlimmes“ passiert ist, so habe ich mir sagen lassen, sei ich doch sicher. Schön auch, dass mir ausgerechnet die Männer eine Geschichte von Sicherheit erzählen wollen, die sich größtenteils noch nie Gedanken über das Allein-nach-Hause-gehen machen mussten, weil sie die Angst, verfolgt zu werden, gar nicht kennen. Und wie absurd ist es, dass wir in diesen Fällen noch über Rechtfertigung diskutieren müssen? Ist die Tatsache, dass mir jemand im mildesten Fall einen riesigen Schrecken einjagen wollte, mich in meinem Sicherheitsgefühl so dermaßen eingeschränkt hat, nicht schlimm genug? Reicht es nicht, dass ich überhaupt mit Eventualitäten spielen musste, da könne gleich jemand bewusst in mein Apartment einbrechen, während ich mich darin befinde?

Wann ist „Bloß keine Angst zeigen“ zu einer angemessenen Reaktion geworden?

Offensichtlich reicht das nicht, denn die Reaktionen derer, denen ich am nächsten Tag vor Ort von der Verfolgung erzählt habe, fiel ziemlich wortwörtlich folgendermaßen aus: „Das Tor zur Einfahrt stand am nächsten Morgen offen? Ach, das war sicher der Wind“, „Wieso sollte jemand drei Stunden lang vor deinem Apartment herumschleichen, ohne etwas zu tun?“, „Bist du dir sicher?“, „Da hast du zu viel reininterpretiert“, „Oh, das hat dir einen Schrecken eingejagt? Kann ich mir vorstellen. Aber morgen sieht die Welt schon wieder anders aus, jetzt genieß einfach den Urlaub.“ Ich könnte jetzt ewig so weitermachen und ganze Romane über die weisen und sicherlich auch gut gemeinten Ratschläge schreiben, die ich zu meiner Situation erhalten habe. Wie zum Beispiel, die Angst sei ja nur in meinem Kopf und ich solle den Stalker doch beim nächsten Mal einfach konfrontieren, mit ihm ein Bier trinken, um zu verstehen, was in seinem Kopf vorgeht, ihm sozusagen den Wind aus den Segeln nehmen. Bloß keine Angst zeigen! Nicht weglaufen! Konfrontiere ihn und dann siehst du, dass du eigentlich gar nichts zu befürchten hast! Komm schon, Schätzchen, stell dich nicht so an.

Vielleicht ist das aus verhaltenspsychologischer Perspektive gar kein so falscher Ansatz, aber mal ganz unter uns gesagt: what the actual f*ck? Da verfolgt mich jemand wieder und wieder mit bis heute unbekannten Intentionen, und jetzt bin ich diejenige, die ihre Angst in den Griff kriegen muss? Ich weiß nicht, aber irgendwo sind wir gesellschaftlich in dieser Debatte falsch abgebogen.

Das Problem ist viel tiefgreifender als der Umgang mit der Situation

Nur einmal zum Vergleich: Ich habe den Vorfall unmittelbar auch einer meiner engsten Freundinnen, meiner Mutter und meiner Schwester geschildert. Deren Reaktion? Zuhören, echte Sorge, unzählige Hilfsangebote bei der Suche nach einer neuen Unterkunft, die Frage, ob sie nach Rückflügen suchen sollen und am Ende die dringende die Aufforderung, so schnell wie möglich meine Unterkunft zu wechseln. Und das habe ich getan. Ganze dreimal. Auch mit den Rezeptionistinnen des Hotels, in das ich umgezogen bin, musste ich keine einzige Diskussion führen oder Fragen zu den Details der Situation beantworten. Im Gegenteil: Die Mitarbeiterinnen haben mir ohne weiteres geglaubt, mich ernst genommen und mir ein Zimmer gegeben, in dem zumindest alle objektiven Aspekte das höchste Maß an „Sicherheit“ erfüllten. Die einzige Frage, die mir von ihnen gestellt wurde, war, was sie weiterhin für mich tun können, damit ich mich sicher fühle. Ich denke, das sagt so ziemlich alles über die Erfahrung von Frauen mit bedrohlichen Situationen aus: Frauen müssen nicht nachfragen, wenn jemand von einer solchen Erfahrung erzählt, weil jede Frau dieses Gefühl kennt.

Andererseits kann ich den Männern aus meiner Geschichte wiederum keinen Vorwurf machen für etwas, was sie ja wirklich gut meinten. Wie soll man auch Ratschläge für etwas geben, mit dem man noch nie selbst konfrontiert wurde? Das Problem liegt im Grunde ja gar nicht bei den falschen Ratschlägen, sondern greift viel tiefer. Wo wir doch in einer Gesellschaft leben, in der wir von Kindesbeinen auf lernen, Männer seien das stärkere Geschlecht, Männer haben nichts zu befürchten. In der junge Mädchen schon früh eingebläut kriegen, bloß niemals mit Fremden zu sprechen, niemandem die Tür aufzumachen und unbedingt regelmäßig an Selbstverteidigungskursen teilzunehmen – weil sie sich schützen müssen. Genau da liegt schon der Ansatz des Problems, und den gilt es, an der Wurzel auszuhebeln.

Bis wir da angekommen sind, bleibt mir in meiner Situation schließlich nichts anderes, als tatsächlich an meinem Thema mit der Angst zu arbeiten – und langsam, Stück für Stück, wieder ein Sicherheitsgefühl in mir aufzubauen. Deshalb ist es für mich eine so große Sache, die erste Nacht seit dieser Erfahrung wieder allein im Hotel verbracht zu haben – und das, ohne mein Nervensystem mit Atemübungen und intensiver Meditation zur Ruhe bringen zu müssen. Ein Stück wiedergewonnene Freiheit.

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