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Was ist eigentlich Familie oder: Ist Blut wirklich dicker als Hühnersuppe?
Ihr Lieben, in meiner letzten Kolumne hatte ich euch ja schon von dem Dilemma mit dem grau-melierten Sofa berichtet. Aber nach zwei Wochen ohne kann ich euch sagen: Es zu verkaufen, war eine Befreiung! Aber es hat auch Fragen aufgeworfen – plötzlich war da Platz in meinem Wohnzimmer und auch irgendwie Platz in meinem Leben. Und während ich diesen schmucken, pinken Flohmarkt-Sessel so im Zimmer rumschob, stand die Idee im Raum, ob ich den Liebhaber nicht doch mit ins Bett nehmen sollte. Ich glaube, das geht jeder beginnenden Liebelei so; irgendwann stellt sich die Frage: Möchtest du zum Frühstück bleiben? Und in meinem Fall bedeutet das auch, dass meine fünfjährige Tochter mit am Tisch sitzt …
Die Diskussionen, die das zwischen dem Liebhaber und mir, dem Ex und mir und in meinem Freundeskreis auslöste, lässt sich ungefähr wie folgt beschreiben: Halleluja! Und so komme ich nicht drum herum hier mal ein großes, lautes Plädoyer für einen neuen Familienbegriff in meine Worte zu fassen: Was bedeutet „Familie“ im Jahr 2021 wirklich? Wie ich in den Diskussionen der letzten Tage feststellte, bedeutet es in den Köpfen vieler mich umgebender, lieber Menschen so etwas wie Vater-Mutter-Kind in einem Haushalt plus Schwiegereltern, Geschwister und ein paar nahe Verwandte. Hä? Ist das wirklich noch die Norm an der wir uns orientieren sollten?
Also bei mir sieht das so aus: Mein Ex und ich leben seit zwei Jahren getrennt und versuchen es in aller Freundschaft frei nach dem Slogan „Kids first“. Das bedeutet, dass wir auch mal etwas als Familie unternehmen, dass wir Entscheidungen gemeinsam treffen, uns regelmäßig auf eine Pasta treffen und, wenn viel Frust in der Luft liegt, auch auf ein paar Gläser Wein. Dass wir das auch nicht immer gut aushalten, aber dass wir als Eltern versuchen, uns nicht schuldig zu fühlen oder gegenseitig schuldig zu machen, dafür dass wir kein Liebespaar mehr sein können. Und dass wir unsere Tochter mit ganz viel Liebe großziehen – und trotz allem mit dem Gefühl, dass wir drei eine wunderschöne Form von Familie sind. Es gibt Tage, da fällt uns dreien das ganz leicht und dann gibt es Tage, da ist es schwerer. Aber ich sag mal: Das macht Familie ja auch aus!
Familie ist für mich auch, die, die dir eine Hühnersuppe vor die Tür stellen, wenn du sie brauchst
Wenn ich meinen kleinen Kreis der Familie etwas größer ziehe, fehlen mir meine Eltern. Mein Vater ist vor zwei Jahrzehnten ausgewandert und meldet sich selten, meine Mutter ist vor drei Jahren an Krebs gestorben. Aber ich pflege, vielleicht auch deswegen, ein tolles Verhältnis zu meinen Schwiegereltern. Warum auch nicht? Sie gehören ganz selbstverständlich zu meiner Familie dazu; ich habe mich ja nicht von ihnen getrennt, sondern von ihrem Sohn. Und na klar, gehen die mir manchmal auf die Nerven. Aber das würden sie ja sowieso tun!
Dann habe ich einen ganzen Haufen Schwestern, die ich über alles liebe und die wiederum Männer, Ex-Männer, Kinder, Schwiegerfamilien, Tanten und Onkel haben. Wir leben über die ganze Welt verstreut und haben uns schon vor Corona mehr über Skype gesehen als zum Anfassen. Ja, und dann sind da noch die guten Freunde. Die, die dir eine Hühnersuppe vor die Tür stellen, wenn du sie brauchst und deine Mama eben nicht mehr zur Stelle ist. Die, die dich darauf hinweisen, dass du dich heute besonders gut schlägst oder irgendwie richtig mies aussiehst. Die, die dir einen Spiegel vorhalten oder ein Glas Wein hin. Ich lebe seit vielen Jahren recht weit entfernt von meinen Blutsverwandten und ich bin nicht nur darauf angewiesen, nein, ich sehe meine guten Freunde als festen Bestandteil meines Herzens und meines Alltags.
Mein Leben kann dem herkömmlichen Begriff von Familie also nicht standhalten! Meine Familie ist getrennt, über die Welt verteilt, digital, gestorben, im Herzen oder steht einfach mal vor der Tür – bei mir ist Hühnersuppe genauso dick wie Blut!
"Ich fühle mich mit meinem Familienbegriff unglaublich aufgefangen und geliebt und so gut aufgestellt, dass mein Leben sehr viel Unruhe vertragen kann. Und ich habe vor allem ganz viel Platz für noch mehr Liebe! "
Durch die Trennung von dem Vater meiner Tochter hat sich nur das Liebespaar getrennt, sonst nichts. Und ich fühle mich nicht als halbe Familie, nur weil ich mit meiner Tochter zu zweit in einer Wohnung lebe. Im Gegenteil, ich empfinde dieses Patchwork-Ding als große Bereicherung: neue Menschen, spannende Lebensgeschichten, andere Sichtweisen, neue Auseinandersetzungen, noch mehr Liebe! Und der fehlende Mann in meinem Leben braucht auch kein Mitleid im Freundeskreis zu erzeugen. Ich habe es nicht schwerer, ich habe es einfach nur anders! Und wenn ein neuer Mensch dazu kommt, ein Mann, eine Frau, eine Zieh-Oma, ein neu geborenes Baby – dann wird die Familie größer. Und wenn jemand stirbt oder den Familienverbund verlassen möchte, dann wird sie kleiner. Das bringt immer Unruhe rein, aber ganz ehrlich: Ich fühle mich mit meinem Familienbegriff unglaublich aufgefangen und geliebt und so gut aufgestellt, dass mein Leben sehr viel Unruhe vertragen kann. Und ich habe vor allem ganz viel Platz für noch mehr Liebe!
"Im schönsten Fall wächst meine Tochter in dem Vertrauen auf, dass es immer irgendwo eine Hühnersuppe gibt"
Familie im Jahr 2021 bedeutet vielleicht: mich selbst nicht immer an die erste Stelle zu stellen, mit meinen Eitelkeiten und Besitzansprüchen. Menschen, die es gut mit mir meinen in meinem Leben zu lassen und neugierig und mutig zu bleiben für Veränderungen und sich selbst eine große Herausforderung auch zu zu trauen. Es bedeutet 2021 aber auch, meine große bunte Familie nach außen zu verteidigen und meinen Mitmenschen klar zu machen: Hey, das, was ich habe, ist genauso wertvoll und ganz und richtig, wie das was du hast. Meine Tochter und ich sind nicht halb, nur weil wir zwei sind und nicht drei, vier, fünf. Und eigentlich sind wir auch gar nicht zwei, sondern fünfzig oder so. Ich muss mich in meinem Alltag nicht mehr oder weniger durchsetzen als eine vermeintlich klassische Familie, ich muss mich einfach an anderer Stelle durchsetzen. Während ihr abends noch eine Diskussion führt, warum die alten Socken jetzt neben dem Sofa ausgezogen wurden, liege ich vielleicht schon mit einem Glas Wein in der Badewanne. Und meine Tochter wächst mit einer Vielfalt lieber Menschen auf. Sie geht mittags nach der Schule eben entweder zu mir, zu ihrem Papa oder auch mal zu den Nachbarn. Das Wichtigste ist doch: Sie ist nie allein. Und im schönsten Fall wächst meine Tochter in dem Vertrauen auf, dass es immer irgendwo eine Hühnersuppe gibt!
Ich kann den Liebhaber also nur einladen ein Teil meiner Familie zu werden. Dann müsste ich auch nicht mehr so viel Yoga machen, um zu Zweit auf diesen Sessel zu passen …
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