Kolumne loslassen
Unsplash/Austrian National Library

Woher wissen wir, wann es Zeit ist, loszulassen?

Mit dem Jahreswechsel ist es wieder Zeit, Dinge loszulassen, die nicht mehr zu uns gehören. Aber woher wissen wir eigentlich, wie wir ehrlich loslassen? Mich beschäftigt das Thema vor allem in Bezug auf einen Mann – und der Frage, warum es uns so schwer fällt.

"Ausnahmslos finden wir immer einen Grund, noch ein bisschen länger an diesen Dingen festzuhalten.
Vor allem, wenn es um unsere eigenen Wünsche und Ziele geht: Solange wir noch ein Fünkchen Hoffnung haben, wird es schwierig, ganz loszulassen, ganz frei zu sein, ganz egal, wie die Umstände sind.
"

Passend zum bevorstehenden Neujahr habe ich‘s einfach getan. 
Vor einigen Tagen habe ich dem Mann, den ich mir für die Zukunft fest an meine Seite gewünscht habe, die symbolische Tür vor der Nase zugeschlagen.
 Wie befreiend das war! Mein einziges Problem: 
Er hat die frisch geschlossene Tür wahrgenommen – und sich von ihr abgewendet, statt unter Entschuldigungstiraden anzuklopfen. 
So war das irgendwie nicht geplant.

Ich vermute auch nicht, dass es das ist, was alle Coaches dieser Welt meinen, wenn sie vom „Loslassen“ reden, um zu den eigenen Werten zu stehen.
 Denn so ein richtiges Loslassen war das nicht, eher ein „ich möchte gern meine Grenzen kommunizieren, während ich insgeheim hoffe, dass du dadurch deine Fehler einsiehst und wir dann wieder zusammenfinden.“ 
Eventuell habe ich den Abend damit verbracht, mein Handy im Zwei-Sekunden-Takt zu checken – in hysterischer Erwartung der großen Liebeserklärung, die doch bestimmt jeden Moment auf dem Bildschirm aufleuchten und mich so umhauen würde, dass alles bisher Geschehene vergessen sei. 
Überflüssig zu sagen: Der Bildschirm blieb schwarz.

Dann hätte ich mir um ein Haar ein Soulmate-Reading gekauft (eine Art online Liebes-Orakel) – nur, um sicherzugehen, ob besagter Mann, den ich ja gut eine Stunde vorher erst so selbstbewusst zum Mond geschickt hatte, im Jahr 2023 nicht doch wieder zu mir zurückfindet.
Kurz gesagt: Nachdem es vier tränenreiche Wochen gedauert hat, die Entscheidung zum Loslassen zu treffen, musste ich mir jetzt eingestehen, dass es kein Loslassen ist, wenn wir es nur in der Hoffnung tun, danach umso fester halten zu können. 
Zusätzlich zur Situation muss ich jetzt auch noch das Loslassen loslassen! 
Wer hat sich das denn bitte ausgedacht? Und wieso klingt das mit dem Loslassen auf bunten Instagrambildchen immer so viel einfacher, als es wirklich ist?

Wir finden immer einen Grund, noch etwas länger festzuhalten

Allerdings nehmen wir uns das ja nicht zum ersten Mal vor, das mit dem Loslassen, oder?
Abgesehen von Männern und der Liebe müssen wir ständig alle möglichen Dinge loslassen: alte Geburtstagskarten von Verwandten, vollgeschriebene Notizbücher, das angebrochene Glas Gewürzgurken, das seit Silvester letzten Jahres im Kühlschrank steht, und unsere eigenen Träume und Ziele.
Ausnahmslos finden wir immer einen Grund, noch ein bisschen länger an diesen Dingen festzuhalten.
Vor allem, wenn es um unsere eigenen Wünsche und Ziele geht: Solange wir noch ein Fünkchen Hoffnung haben, wird es schwierig, ganz loszulassen, ganz frei zu sein, ganz egal, wie die Umstände sind.
Wir wissen es besser und klammern uns doch an jedem Strohhalm fest (– oder an jedem Streichholz, wie ich letztens versehentlich sagte, und seitdem der Meinung bin, dass das ohnehin das schönere Bild abgibt).

"Manche Dinge müssen zerfallen, damit sie sich neu zusammenfinden. 
Ich glaube, das bedeutet, wir können nur wahrhaftig loslassen, indem wir aus diesem Moment heraus Entscheidungen treffen."

Weil wir so gern daran glauben möchten, dass alles ausgeht, wie wir es uns wünschen. Es ist ja auch schön, zu hoffen. Hoffnung kann Kraft spenden.
 Andererseits wirft schon die Geschichte um Büchse der Pandora aus der griechischen Mythologie seit jeher die Frage auf, ob die Hoffnung nicht sogar das größte Unheil über die Menschen bringt, weil sie uns länger in Situationen ausharren lässt, die eigentlich aussichtslos sind.
Woher wissen wir also, wann es Zeit ist, loszulassen?

Loslassen heißt, nicht wissen zu können, ob wir gerade das Richtige tun

Vielleicht ist es, wie alle sagen. Vielleicht wachen wir eines Tages auf und wissen genau, was zu tun ist. Vielleicht ist es Teil des Prozesses, uns vorher wochen- oder monatelang hin und her zu winden; zu versuchen, die Entscheidung herauszuschieben, bevor wir klar sehen können. 
Vielleicht müssen wir erst alle möglichen Ausreden finden, bis keine mehr übrig bleibt, damit wir wahrhaftig loslassen können. 
Und selbst dann ist es nicht leicht, etwas gehen zu lassen, was uns vorher so lange begleitet hat, das wir geliebt haben (looking at you, geliebtes Gewürzgurkenglas), weil wir nicht wissen, was danach kommt. Die Angst vor dem Unbekannten.

Die Tarotkarten habe ich mir übrigens dann selbst gelegt, zum Spaß.
 Die Botschaft: Manche Dinge müssen zerfallen, damit sie sich neu zusammenfinden.
Ich glaube, das bedeutet, wir können nur wahrhaftig loslassen, indem wir aus diesem Moment heraus Entscheidungen treffen. Indem wir vertrauen, dass die Entscheidung, die wir heute treffen, die richtige ist – auch, wenn wir morgen schon wieder nach Strohhalmen suchen.
 Deshalb lautet mein Vorsatz für 2023:
 In Bezug auf Männer halte ich mich statt an Strohhalmen nur noch an Streichhölzern fest – die brennen sowieso schneller ab.

Gefällt dir? Dann sag's weiter: