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Bye bye, People Pleasing Me – wie sich Freundschaften verändern, wenn ich zu mir stehe
Ob während des Studiums, neben einer 60-Stunden Arbeitswoche oder inmitten von Sinnkrisen und Liebeskummer – ich war immer die Person, die ihre Freundschaften an erste Stelle gesetzt hat. Bin jahrelang durchs ganze Land zwischen allen Städten hin-und hergefahren, hab spontan Flüge nach Barcelona, Bordeaux, New York und sogar Ecuador gebucht. Und all das für Überraschungsbesuche, zum Trost spenden an Wochenenden voll durchwachter Nächte mit Wein, Zigarettenrauch und verschlafenen Vormittagen bei Kaffee und Lagebesprechungen zu den neuesten Situationships (oder solchen, die es noch werden sollten). Ich hab selbst während meiner Selbstständigkeit täglich zweistündige Telefonate mit meinen Freundinnen priorisiert, um in schweren Zeiten für sie da zu sein. Und heute frage ich mich, wieso eigentlich?
Ich will nicht so tun, als wäre all das nicht meine eigene Entscheidung gewesen, weil es das natürlich war. Genauso, wie meine Freundinnen auch für mich oft die Schulter zum Anlehnen und die warme Stimme im Ohr anboten, wenn ich Rat brauchte. Meine Freundschaften sind tief und besonders, waren es schon immer – ein Anker, ohne den ich sicher nicht da wäre, wo ich heute stehe.
Wenn das Verständnis für andere größer wird als für sich selbst
Trotzdem: Es fiel mir immer zu leicht, meine eigenen Bedürfnisse und Aufgaben hintenanzustellen und die meiner Freundinnen zu priorisieren. Wenn andere mich brauchten, war ich da, egal, mit welchen Themen ich gerade zu kämpfen hatte. Wenn andere Zeit für sich brauchten, gab ich Raum, ohne zu fragen, und wartete einfach so lange, bis sie wieder bereit waren, auf mich zuzugehen. Ich gab immer das, was die anderen gerade brauchten, weil ich verstand, dass Mental Health auch in Freundschaften das Allerwichtigste war. Die Absage einer engen Freundin, als ich einen Sommer in London arbeitete und sie mich dort hatte besuchen wollen? Kein Problem, dann ein andermal, ich verstand. Der in letzter Minute gecancelte Trip nach Bayern, wo wir uns Wohnungen für meinen bevorstehenden Umzug angucken wollten? Das Abtauchen einer Freundin mit Beginn ihrer neuen Beziehung? Die ins Wasser gefallene Fahrt in den Freizeitpark, über die wir monatelang geredet hatten? Die kurzfristige Absage für den Konzertbesuch, der ein Weihnachtsgeschenk von mir gewesen war? Ich verstand, ich verstand, ich verstand. Meine eigene Enttäuschung? Schluckte ich runter. War schließlich nicht so wichtig wie die mentale Gesundheit einer engen Freundin.
"Die Ironie ist ja, dass die meisten Freundschaften genau das zum Vorschein bringen, wenn wir einmal beginnen, ehrlich auszusprechen, was wir wirklich gerade brauchen."
Wo endet freundschaftliche Loyalität und wo beginnt People Pleasing?
Das soll jetzt gar nicht vorwurfsvoll oder bitter klingen – ich weiß selbst nur zu gut, dass manche Dinge einfach nicht gehen, wenn die depressiven Phasen das Steuer übernehmen. Das Problem sehe ich eher darin, dass sich unter dem Deckmantel der loyalen, verständnisvollen Freundin eigentlich nichts weiter als meine People-Pleaser-Tendenzen verborgen hielten.
Im Prinzip ist es wie in meinen bisherigen Beziehungen: Da entstehen tiefe Verbindungen, und trotzdem bleibt das leise Gefühl, selbst immer ein Fünkchen mehr gegeben zu haben als mein Gegenüber. Mehr Enttäuschungen geschluckt zu haben, die einen faden Beigeschmack hinterließen. Damals konnte ich das natürlich nicht erkennen, aber ich denke, ich hatte im Grunde immer Angst, meine Freundinnen zu enttäuschen, wenn ich meine eigene Verletzung, oder sogar meine eigenen Bedürfnisse aussprach – denn wer ist schon so grausam und denkt an sich selbst, wenn es einer Freundin ohnehin nicht gut geht? Aber die Wahrheit ist, eine gute Freundschaft sollte so etwas aushalten. Genauso wie eine gute Beziehung. Denn Mitgefühl bedeutet nicht, nicht ehrlich sein zu dürfen. Und wenn ich ehrlich bin, hätte ich von meinen Freundinnen erwartet, dass sie mir den Raum so halten, wie ich es für sie getan habe: Voller Unterstützung und Verständnis.
"Manchmal muss man andere enttäuschen, um sich selbst nicht mehr zu enttäuschen."
Von der Bereitschaft, andere zu enttäuschen
Die Ironie ist ja, dass die meisten Freundschaften genau das zum Vorschein bringen, wenn wir einmal beginnen, ehrlich auszusprechen, was wir wirklich gerade brauchen. So haben auch meine Freundinnen mir versichert, sie würden mich in meinen Entscheidungen unterstützen und hätten Verständnis, wenn ich die Grenzen ziehen würde, die ich brauchte. Allerdings dauert es wohl einen Moment, bis sich alle Beteiligten an die neuen Dynamiken gewöhnt haben. Als es dann nämlich soweit war und ich den Kontakt zu meinen Freundinnen – mit Vorankündigung! – reduzierte, um mich auf die Selbstständigkeit und meine mentale Gesundheit zu konzentrieren, war von Unterstützung erstmal keine Spur – dafür regnete es Vorwürfe. Ich hatte Lücken in unsere Verbindungen gerissen. Es sei enttäuschend, dass ich mir für „alles andere“ außer meiner Freundschaften Zeit nähme.
Mein früheres Ich wäre wahrscheinlich an dieser Stelle in alte Dynamiken zurückgefallen, aus Angst, meine Freundinnen zu verlieren. Mein heutiges Ich hingegen nimmt aus der Situation die wohl größte und wichtigste Lektion mit: Manchmal muss man andere enttäuschen, um sich selbst nicht mehr zu enttäuschen. Und nur wenn ich selbst klar meine Grenzen ziehe und dazu stehe, können die anderen sie annehmen und respektieren. Außerdem ist es unglaublich befreiend, mich und mein Leben endlich zu priorisieren; die Energie und Liebe, die vorher nach außen geflossen ist, endlich in mich selbst zu investieren.
Meine Freundschaften bedeuten mir noch immer die Welt, und ich will sie natürlich nicht verlieren – aber ich weiß, dass ich das nicht werde. Denn die Freundschaften, die ich habe, bestehen seit teilweise zehn, manche seit siebenundzwanzig Jahren. Und wer solche Zeiten durchsteht, der kann alles schaffen. Eine echte Freundschaft hält solche Phasen aus – so, wie sie es immer schon getan hat. Überhaupt ist die wichtigste Grundlage für Verbindungen mit anderen sowieso die Freundschaft zu mir selbst, oder?