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Zwischen Bindungsstilen und Beziehung: Wieso wir nicht immer ‚better off alone‘ sind
Ich sitze bei meiner Therapeutin und weine mir – wieder einmal – die Augen aus. Wegen eines Mannes. ‚Und dabei weiß ich es besser‘, presse ich zwischen Taschentuch-Schnäuzern hervor, die selbst Benjamin Blümchen Konkurrenz machen würden. ‚Ich sehe ja, dass er mir gerade nicht geben kann, was ich brauche. Ich verstehe einfach nicht, wieso ich nicht loslassen kann.‘
Ich wappne mich für die ultimative Wahrheit, für den sanften aber bestimmten Reality Check; dafür, dass meine Therapeutin mir sagt, jetzt sei für ein für alle Mal Schluss, für meinen eigenen Seelenfrieden müsse ich mich endlich lösen, meine Bedürfnisse priorisieren und diese verzwickte Dynamik verlassen – Gefühle hin oder her.
Dann legt sie den Kopf schief und sieht mich mit diesem Blick an, der eine schwer verdauliche Wahrheit ankündigt. ‚Was wäre, wenn Sie Ihre Bedürfnisse jetzt einfach mal zurückstellen und versuchen, Ihr Gegenüber zu sehen?‘, fragt sie, und ich falle aus allen Wolken.
"Der avoidant muss sich ändern, an seinen Themen mit der Nähe arbeiten, und wenn er das nicht tut, dann – so sind sich alle Instagram-Psycholog*innen einig – gibt es nur eine einzige Botschaft für alle, die es mit einem avoidant zu tun kriegen: LAUF FOREST, LAUF! Und zwar so weit du kannst!"
Nicht, dass ich Instagram und diversen Pop-Psychologie-Podcasts die Schuld in die Schuhe schieben will, aber in den letzten zwei Jahren habe ich mich sehr, sehr, sehr, sehr intensiv mit dem Thema attachment theory, also mit Bindungsstilen beschäftigt, und wenn man erst einmal in dieses Rabbithole gefallen ist, dann … naja, ich sag mal so: Plötzlich siehst du nicht nur überall wandelnde Red Flags, sondern du fragst dich, wie irgendjemand es überhaupt noch schafft, funktionierende Beziehungen zu führen, wo wir doch alle so hochgradig dysfunktional sind.
Nachdem ich alle existierenden Bücher, Podcasts und Insta-Kanäle zum Thema inhaliert habe, lautet die große Erkenntnis für meine Situation: Er ist der avoidant, also der vermeidende Typ, und ich gehöre zum ängstlichen Typen, ganz und gar anxious. In anderen Worten bedeutet das, er zieht seine Wände hoch, sobald echte emotionale Nähe stattfindet, und ich wiederum brauche so viel Nähe, dass ich ihn bei dem Versuch, diese herzustellen, noch mehr einenge, und so weiter und so weiter. Völlig klar also: Der avoidant muss sich ändern, an seinen Themen mit der Nähe arbeiten, und wenn er das nicht tut, dann – so sind sich alle Instagram-Psycholog*innen einig – gibt es nur eine einzige Botschaft für alle, die es mit einem avoidant zu tun kriegen: LAUF FOREST, LAUF! Und zwar so weit du kannst!
Fröhlich wird dazu ermutigt, die eigenen Bedürfnisse voranzustellen und jeden aus dem eigenen Leben zu streichen, der diese nicht erfüllen kann.
Da werden Tipps geteilt, wie man den avoidant schon bei den ersten Dates identifiziert und sich dann schnellstmöglich aus dem Staub macht, zur eigenen Sicherheit natürlich. Den Menschen, die sich schon Monate, vielleicht Jahre in dieser Dynamik befinden – also mir – wird geraten, sich von jetzt auf gleich zu trennen und jeden Kontakt abzubrechen, denn nur so können wir heilen. Schließlich sind wir irgendwie alle better off alone, oder?
Nö. Sind wir nicht.
Nicht falsch verstehen – ich bin absolut dafür, die eigene mentale Gesundheit zu schützen und sich aus Verbindungen zu lösen, die wirklich Schaden in und mit uns anrichten können. Als genesende People Pleaserin lerne ich selbst seit Jahren, die A*löcher in meinem Umfeld besser identifizieren und stärkere Grenzen für mich zu ziehen; in meiner Familie, Freundschaften und Beziehungen. Es ist hilfreich und erleichternd, endlich die eigene Situation benennen und von einer höheren Warte aus sehen zu können.
Aber dieser Weg hat mir auch gezeigt, dass es manchmal eben nicht ganz so einfach funktioniert. Wir sind viel komplexer, als dass wir in Schwarz und Weiß einteilen und all das wegwerfen könnten, was uns nicht guttut. Vor allem nicht, wenn es um Menschen geht, die wir lieben. Wenn das so einfach wäre, hätte doch niemand mehr Beziehungsprobleme – oder Beziehungen.
Was, wenn ich genau das will, was ich schon habe?
Diese Überzeugung, loslassen zu müssen, fühlt sich auch nicht richtig rund an. So, als würde noch ein Puzzlestück fehlen. Da ist schon ein Anteil in mir, der weglaufen möchte, um mich und meine Bedürfnisse zu schützen. Aber ist das nicht ein hauchfeiner Balanceakt zwischen Selbstschutz und ‚ich verschließe mich aus Angst, verletzt zu werden‘? Woher weiß ich, ob ich aus den richtigen Gründen laufe?
"Der Rat meiner Therapeutin lautet: Geduld haben und dann einfach sehen, was sich entwickelt, wohin das Ganze noch führt. Keinen Druck in jegliche Richtung aufbauen, weder meine Bedürfnisse durchsetzen, noch mich gewaltsam lösen, dann ergeben sich manchmal Wunder. Wenn die Zeit reif sei, dann wüsste ich schon, was ich zu tun habe. Nicht, dass ich spoilern will, aber der Zeitpunkt kam."
Auf der Suche nach Antworten gucke ich mit meiner Therapeutin genauer hin, und – oh Wunder – finde dabei etwas, das ich lieber weiter unerkannt in den Tiefen meines Unterbewusstseins gelassen hätte: Was, wenn ich gar nicht weglaufen will? Was, wenn das, was ich habe, genau das ist, was ich will? Diese Beziehung, die eigentlich keine ist, nicht hinter mir lassen will? Was, wenn ich nur glaube, ich müsste etwas besseres für mich wollen. Denn wie schön wäre es, jemanden zu daten, der kein Thema mit emotionaler Nähe hat?
Wie schön wäre es, jemanden zu daten, der nicht schon achthundert Wunden und tief eingravierte commitment issues aus der Vergangenheit mitbringt?
Schön, sehr schön sogar, und viiieeel einfacher als das, was ich jetzt habe, da sind sich meine Familie, Freundinnen und Insta-Psycholog*innen alle sehr einig.
Tja, leider habe ich mich anders entschieden. Ich will das, was ich habe. In all seiner Unperfektion.
Vielleicht sieht es von außen nicht gerade ideal aus oder macht sich besonders gut auf dem Papier, wobei meine Kreativität da etwas anderes sagt, – aber es ist nun einmal meins.
Vom richtigen Zeitpunkt
Der Rat meiner Therapeutin lautet: Geduld haben und dann einfach sehen, was sich entwickelt, wohin das Ganze noch führt. Keinen Druck in jegliche Richtung aufbauen, weder meine Bedürfnisse durchsetzen, noch mich gewaltsam lösen, dann ergeben sich manchmal Wunder. Wenn die Zeit reif sei, dann wüsste ich schon, was ich zu tun habe. Nicht, dass ich spoilern will, aber der Zeitpunkt kam.
Plötzlich steht er wieder vor mir, und als ich in diese unsicheren braun-grünen Augen schaue, sehe ich keinen avoidant. Ich sehe jemanden, dessen Herz genauso wild vor Aufregung und Angst schlägt, nichts richtig machen zu können. Ich sehe jemanden, der, genau wie ich, offene Wunden aus der Vergangenheit mit sich trägt. Der Angst davor hat, sich wieder einzulassen, das Herz sperrangelweit aufzumachen – und den Impuls verspürt, wegzurennen, bevor überhaupt etwas richtiges entstehen kann, bevor ihn das hier gebrochen hinterlässt. Und ich erkenne, dass ich es bin, die etwas ändern muss, um diese Dynamik zu durchbrechen.
Also mache ich nochmal ganz weit auf, mein Herz, meine Welt, reiße alle Wände nieder. Ohne zu fordern, ohne wissen zu müssen, was aus uns wird. Ohne ihm diktieren zu wollen, was er ändern muss, damit ich ihn lieben kann – ich sehe ihn endlich so, wie er ist, nicht, wie ich ihn haben will. Ein letztes Mal gebe ich alles, was ich zu geben habe.
Das gibt mir keine Garantie auf mein happy end zu zweit, oder darauf, hier unbeschadet rauszugehen. Ich weiß nicht, was jetzt passiert. Ich weiß nicht, ob er bereit ist, denselben Schritt zu gehen wie ich. Ich kann niemanden in die Veränderung hineinlieben, aber was ich kann, ist, Mut zu fassen und wie ein Leuchtturm zu meiner Wahrheit zu stehen.
Für mich, nicht für ihn. Denn meine Geduld wird sich ohnehin lohnen – egal, wie das mit uns ausgeht. Weil ich damit endlich den avoidant in mir selbst besiegt habe, ganz ohne weglaufen zu müssen. Ohne mich zum ‚better off alone‘ zu zwingen.
Da ist es, mein letztes Puzzlestück. Ging es nicht von Anfang an ums Finden statt ums Loslassen?