Mutigsein
Hintergrund: Ahmet Polat/Pexels

Es wird Zeit, das Mutigsein zu trainieren – oder wieso mein Kaffee an allem Schuld ist

Wenn mich heute jemand fragen würde, wann ich das letzte Mal etwas Mutiges getan habe, dann muss die Antwort wohl lauten: Ich bin gerade mittendrin. Vor einem Tag hatte ich noch keine Ahnung, dass ich um drei Uhr nachts meine Tasche mit Bikini, Kleid, und Sonnencreme packen und kurz darauf am Flughafen sitzen würde (inklusive einer Flasche Flughafenwasser, das, den Preisen nach zu urteilen, mit flüssigem Gold versetzt sein muss.) Weil ich mich spontan dazu entschieden habe, für 24 Stunden nach Griechenland zu fliegen und jemanden zu besuchen.

"Vielleicht ist diese Sache mit dem Mut ganz ähnlich wie die mit dem Kaffee. Auch, wenn wir wissen, was vernünftiger ist und auch, wenn das Vernünftige kalkulierbarer ist – der Alltag ist so viel lebhafter und spannender, wenn wir andere Wege gehen."

Dabei war ich sogar ein bisschen stolz auf die Standhaftigkeit, mit der ich zuerst auf meinem „Nein“ beharrt habe, als der Griechenland-Vorschlag kam – ganze 30 Minuten lang. 
Obwohl gerade ich es eigentlich wissen müsste: Das mit der Standhaftigkeit war schließlich noch nie so mein Ding; so flüstert zumindest der Cappuccino in meiner Hand, wo ich doch allein dieses Jahr schon ca. achtdrillionen Mal verkündet habe, ich würde den Kaffee jetzt an den Nagel hängen. Aber gut, das Leben ist zu kurz, um auf den obligatorischen Schreib-Kaffee zu verzichten.

Der Unterschied zwischen neuen Schritten heute und damals

Vielleicht ist diese Sache mit dem Mut ganz ähnlich wie die mit dem Kaffee. Auch, wenn wir wissen, was vernünftiger ist und auch, wenn das Vernünftige kalkulierbarer ist – der Alltag ist so viel lebhafter und spannender, wenn wir andere Wege gehen. Der Neugier folgen statt der Angst. Den Job kündigen, ohne etwas Neues zu haben; zu daten und sich tatsächlich zu verlieben; dem Chef zu sagen, dass niemand seine Dad-Jokes wirklich witzig findet – und einfach mal zu gucken, was passiert! 
Letztens habe ich mit einer Freundin darüber philosophiert, wieso wir früher so viel unerschrockener waren. 
Hat das mit dem Alter zu tun? Oder bin ich die einzige, deren 20er geprägt davon waren, ständig Neues auszuprobieren – neue Jobs, neue Wohnorte, neue Dates, neue Cocktails und neue Ben & Jerrys-Kompositionen? Jedenfalls weiß ich, ich hätte früher keine Sekunde überlegt, für 24 Stunden nach Griechenland zu fahren. Ich hätte es einfach gemacht.

Und heute?
Habe ich erstmal eine Checkliste all der Gründe gemacht, wieso das eine Schwachsinnsidee wäre, die ich wie meine Morgenaffirmationen herunterbete und jedem mitteile, der sie nicht hören will – nur um dann enttäuscht zu sein, wenn mein Gegenüber meine Ablehnung mit einem 
„Okay, ich hab‘s wenigstens versucht“ quittiert. Eigentlich will ich nämlich nach Griechenland - I mean, wer will das nicht? Nur überwiegt dieses Mal, im Gegensatz zu früher, die Unsicherheit. Das ständige Nachdenken, was könnte schiefgehen? Wo könnte ich verletzt werden? Und sobald ein kleines Warnsignal auftaucht, machen wir zu – Nein danke, heute lieber nicht. Vielleicht beim nächsten Mal. Nur wird es das nächste Mal und auch das Mal danach immer einfacher, ‚nein‘ zu dem zu sagen, was wir wirklich wollen, wenn wir einmal damit angefangen haben.

Zeit, den Mut-Day im mentalen Gym nicht mehr zu skippen

Eine Bekannte hat mir letztens über Instagram geschrieben, Mut sei wie ein Muskel: Je öfter wir ihn in kleinen Schritten trainieren, desto größer wird er und desto mehr trägt er uns. Vielleicht wird es jetzt langsam mal Zeit, den Mut-Day bei der mentalen Fitness nicht mehr zu skippen. Und wenn ich schon dabei bin, sollte ich wohl gleich meinen Kaffeemuskel mit trainieren.

"Als ich aus dem Flughafen trete, die griechische Sonne mir herrlich ins Gesicht scheint und das Stimmengewirr aus einer Mischung von Griechisch und Englisch um mich ausbricht, als wäre ich auf einem Marktplatz, merke ich: Egal, was in diesen 24 Stunden passiert – ich bin froh, dass ich mutig war, es zu tun."

Mut ist wunderbar. Mut schützt uns vielleicht nicht gegen enttäuschte Erwartungen oder vor dem Herzrasen nach dem vierten Cappuccino innerhalb einer Stunde oder davor, Flugtickets auf den falschen Namen gebucht zu haben. Aber der Mut, neue Schritte zu gehen, hilft uns vielleicht, ein bisschen tiefer in das Leben einzutauchen, alles mitzunehmen, was wir auf dieser Erde geboten kriegen.
 Wir machen das hier alle zum ersten Mal, niemand von uns weiß, wie das richtig geht mit den neuen Schritten – aber irgendwo auf dieser Welt bekommt jemand gerade sein erstes Tattoo und es werden neue Freundschaften geschlossen. Babys kommen zur Welt und eine andere Person erlebt gerade ihren ersten Kuss während die nächste den großartigsten Sex ihres Lebens hat. All diese Dinge geschehen rund um die Uhr, die ganze Zeit auf dieser Welt. Und all das nur, weil eine einzige Person ihren Mut gefasst und den ersten Schritt gegangen ist.

Als ich aus dem Flughafen trete, die griechische Sonne mir herrlich ins Gesicht scheint und das Stimmengewirr aus einer Mischung von Griechisch und Englisch um mich ausbricht, als wäre ich auf einem Marktplatz, merke ich: Egal, was in diesen 24 Stunden passiert – ich bin froh, dass ich mutig war, es zu tun. Falls es im Desaster endet, kann ich es immer noch als Recherche für meine Bücher abhaken. Denn am Ende gehe ich diesen Schritt, wie jeden anderen in einem Leben, für mich selbst, nicht für den anderen. Und hätte mein Gegenüber seinerseits nicht den Mut aufgebracht, mich zu fragen, ob ich nach Griechenland komme, würde ich wohl niemals erfahren, wie viel Sommerglück in 24 Stunden passt.

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