Natascha Sagorski über den Verlust ihres ungeborenen Babys, „Jede 3. Frau“ und warum es so wichtig ist, Fehlgeburten zu enttabuisieren
Während Natascha Sagorski die folgenden Fragen beantwortet, sitzt sie im Zug. Sie ist auf dem Weg nach Berlin. Dort will sie Leni Breymaier treffen, Angeordnete des Familienausschusses im Bundestag, um mit ihr über den gestaffelten Mutterschutz zu sprechen. Natascha hat eine wichtige Petition ins Leben gerufen. Mit der Petition wird gefordert, einen gestaffelten Mutterschutz für Frauen einzuführen, die vor der 24. Schwangerschaftswoche eine Fehlgeburt erleiden.
Nataschas Geschichte und die Antort auf die Frage, wie es zu der Petition kam, erzählt sie uns im Interview.
1000 Dank für deine ehrlichen und empowernden Worte, liebe Natascha!
Fehlgeburten passieren, aber mir doch nicht. Magst du uns von dem Tag erzählen, an dem du erkennen musstest: Doch, sie passieren auch mir …
Ich ging zwischen zwei beruflichen Terminen „mal eben schnell“ zum zweiten Kontrollultraschall. Reine Routine eigentlich. Morgendliche Übelkeit, Heißhungerattacken, bleierne Müdigkeit, es fühlte sich alles so an, wie es sein sollte. Doch es war nichts so, wie es sein sollte. Ich habe heute noch den Klang des Satzes „Ich kann leider keinen Herzschlag mehr finden“ im Ohr. Auf der einen Seite habe ich sofort verstanden, was gerade passiert, auf der anderen Seite konnte ich es kaum fassen. Mein Baby, auf das ich mich so gefreut hatte, war einfach in meinem Bauch gestorben und ich hatte es nicht bemerkt. Auf das, was dann folgte, Krankenhaus, Ausschabung, starke Blutungen, Schmerzen und eine riesengroße Leere, war ich nicht vorbereitet gewesen. Leider wusste ich auch nicht, dass ich trotz Fehlgeburt das Recht auf eine Hebammenbetreuung hatte. Vielleicht hätte es das etwas einfacher gemacht.
Was hat der Verlust mit dir gemacht?
Zuerst einmal hat er mich sprachlos gemacht. Ich stand an der Krankenhausrezeption und wollte fragen, wo die Gynäkologische Ambulanz sei, doch ich brachte keinen Ton heraus. Das war ein schreckliches Gefühl. Die ersten zwei Wochen habe ich mit niemandem außer meinem Mann gesprochen. Erst nach und nach konnte ich mich wieder anderen Menschen gegenüber öffnen. Und dann hat dieses Öffnen unglaublich gutgetan. Plötzlich merkte ich, dass mein ganzes Umfeld voll ist von Frauen mit Fehlgeburten. Nur hatte von sich aus keine darüber gesprochen. Zu merken, ich bin nicht „die EINE“, die versagt hat, nicht die eine, deren Körper es nicht geschafft hat, mein Baby gesund auszutragen. Wir sind viele. Und wir können uns gegenseitig Halt geben.
Die Fehlgeburt hat dich dazu gebracht, dein Buch „Jede 3. Frau“ zu schreiben. Wie kam es dazu?
Mir hat es wahnsinnig geholfen, im Internet Erfahrungsberichte von anderen Frauen zu lesen. Frauen, mit denen ich mich identifizieren konnte, die dasselbe oder ähnliches erlebt hatten, aber die heute wieder lachen konnten, Das hat mir Hoffnung gegeben. Ich habe dann nach einem Buch mit Erfahrungsberichten gesucht, aber keins gefunden. Also habe ich beschlossen, selbst eins zu schreiben. Das Problem war, einen Verlag zu finden, der ein Buch zu diesem Thema veröffentlichen wollte. Ich hatte ja schon mehrere Bücher veröffentlicht, aber das Thema Fehlgeburten wollte niemand anpacken. Bis ich Julia und Verena von Komplett Media getroffen habe, die das Thema bereits auf dem Schirm hatten und sofort Lust hatten, dieses Projekt mit mir umzusetzen. Und ich hätte mir keine besseren Verlegerinnen wünschen können.
Für das Buch hast du mit 25 Menschen Gespräche über ihre Erfahrungen mit Fehlgeburten geführt. Fiel es schwer, in diesem Zusammenhang auch über deinen eigenen Verlust zu sprechen und was hat es mit dir gemacht, von anderen Schicksalen zu erfahren?
Es waren so tolle und berührende, aber auch kraftgebende Gespräche. Erst hatte ich etwas Respekt davor, da ich zu dem Zeitpunkt wieder schwanger war, aber der Austausch mit anderen Frauen hat mir Mut und Stärke gegeben. Und er hat mir auch gezeigt, dass ich kein Einzelfall war. Denn bei meiner Fehlgeburt lief einiges schief, was die klinische Betreuung anging. Zu hören, dass dies leider so oft passiert und wir in diesem Bereich ein strukturelles Problem haben, hat mich sehr wütend gemacht und mich zu meinem politischen Engagement motiviert.
Von den 25 Gesprächspartner:innen hast du mit 24 Frauen und nur mit einem Mann gesprochen. Sind Männer eher weniger bereit, über ihren Verlust zu sprechen?
Diese Erfahrung habe ich zumindest bei der Recherche gemacht. Auf meinen Aufruf hin haben sich so viele Frauen gemeldet, die ihre Geschichte teilen wollten, dass mein Postfach fast gesprengt wurde. Aber einen Mann zu finden, der offen sprechen wollte, war wirklich schwierig. Dabei finde ich Franks Geschichte, die ich dann aufschreiben durfte, so berührend. Denn auch die Väter verlieren ein Baby. Sicherlich weniger körperlich, aber für viele ist es dennoch ein genauso großer Verlust und das wird oft vergessen.
Warum ist eine Fehlgeburt aus deiner Sicht noch immer mit einem großen Tabu-Stempel versehen?
Ich denke, das liegt an zwei Komponenten. Zum einen hat man nach einer Fehlgeburt nicht unbedingt das Bedürfnis, direkt wieder rauszugehen und sich zu öffnen. Frauen, die einen solch schmerzhaften Verlust erlitten haben, sind leise, verletzt und fühlen leider oft auch große Scham. Hier kommt wieder das Gefühl zum Tragen, die eine Ausnahme zu sein, die nicht komplikationslos Kinder in die Welt setzen kann. Denn noch viel zu oft wird in unserer Gesellschaft suggeriert, dass es ja das einfachste der Welt sei, Kinder zu bekommen und das Bild einer flauschigen, heilen Babywelt gezeichnet. Dass jede dritte Frau ihr Baby vor der zwölften Schwangerschaftswoche verliert (und leider auch viele noch später) passt nicht in dieses Windelidyll. Auf der anderen Seite haben viele betroffene Frauen das Gefühl, dass niemand hören will, was sie zu erzählen haben. Ich war überrascht wie viele mir geschrieben haben, dass sie dankbar sind, dass endlich einmal jemand nach ihrer Geschichte fragt. Denn Themen wie Verlust und Trauer muss man erstmal aushalten können und viele Frauen haben das Gefühl, sie würden andere damit belästigen. Ich denke, auch deswegen ist es so wichtig, das Thema zu enttabuisieren. Damit es in unserer Gesellschaft normal wird, auch über die unschönen Dinge des Lebens zu sprechen und wir uns mit einem guten Gefühl an andere wenden können, wenn es einmal nicht glatt läuft in unseren Leben.
Übrigens finde ich es auch total spannend, dass ich aus vielen Redaktionen das Feedback erhalte, dass nach Beiträgen über das Buch und die Petition außergewöhnlich viele Reaktionen kommen. Das zeigt noch einmal, wie wichtig es ist, über das Thema Fehlgeburten zu sprechen und zu berichten, denn so erreichen wir viele Frauen, die in ihrem Umfeld vielleicht noch nicht über das Thema gesprochen haben und durch Berichterstattung dieses Aha-Erlebnis, ich bin eben nicht die einzige und über Fehlgeburten darf und kann man sprechen, erfahren.
Wie kann man Menschen, die eine Fehlgeburt erlebt haben, helfen?
Indem man versucht, nicht mit Plattitüden wie „Du bist ja noch jung“, „Gut, dass es so früh passiert ist“ oder „Du hast ja schon ein Kind“ zu reagieren. Das ist zwar in den meisten Fällen gut gemeint und schnell gesagt, aber hilft so gut wie nie. Ich glaube, es ist wichtig, die Trauer ernst zu nehmen und ein aufrichtiges „Das tut mir so leid“ tut oft genauso gut wie ein ernst gemeintes „Wenn du mich brauchst, bin ich für dich da“. Mir hat nach meiner Rückkehr ins Büro eine liebe Kollegin eine weiße Lilie auf den Schreibtisch gestellt, das war eine schlichte, aber so tiefe und liebevolle Geste, die mich sehr berührt hat.
Es gibt auch viele Anlaufstellen, an die sich Betroffene wenden können, zum Beispiel Sternenkindvereine, Leere-Wiege-Kurse und selbst Schwangerenberatungsstellen haben Angebote für Frauen nach Fehlgeburten, das wissen nur viele nicht.
Du hast aber nicht nur ein wichtiges Buch geschrieben, sondern auch eine Petition ins Leben gerufen, die einen gestaffelten Mutterschutz nach einer Fehlgeburt fordert. Du selbst musstest die Erfahrung machen, dass du am nächsten Tag nach deinem Verlust wieder hättest arbeiten gehen müssen …
Das war in dem Moment ein solcher Schlag ins Gesicht. Noch am Krankenhausbett sagte eine Ärztin wortwörtlich zu mir, dass ich keine Krankschreibung benötige, denn ich könne ja theoretisch morgen wieder ins Büro gehen. Ich bin jemand, der eigentlich immer funktioniert, bin auch oft krank noch ins Büro gegangen. Aber in diesem Moment war ich nicht in der Lage zu funktionieren. Und dass eine Ärztin mir mitteilte, ich hätte aber zu funktionieren, hat mich wirklich fertig gemacht. Mir das Gefühl gegeben, ich hätte kein Recht auf Heilung und schon gar kein Recht zu Trauern, denn es sei ja alles halb so wild. Aber auch nach einer Fehlgeburt muss der Körper, muss die Gebärmutter erst einmal heilen, muss sich das Hormonchaos im Körper legen und die Seele Abschied nehmen. Leider machen viele Frauen die Erfahrung, dass sie nach einer Fehlgeburt keine oder nur eine sehr kurze Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erhalten und zu oft müssen die Frauen aktiv danach fragen, viele regelrecht darum betteln. Deswegen setze ich mich für einen gestaffelten Mutterschutz nach Fehlgeburten ein. Denn aktuell ist es so, dass ich, verliere ich in der 23. Schwangerschaftswoche oder früher mein Kind, null Tage Mutterschutz erhalte und je nach Sensibilität des Arztes, im worst case am nächsten Tag wieder arbeiten muss. Habe ich meinen Arzttermin nur einen Tag später ausgemacht, Anfang der 24. Woche, stehen mir bei einem Verlust 18 Wochen Mutterschutz zu.
Eine harte Grenze …
… die weder angemessen noch logisch ist. Eine Staffelung des Mutterschutzes würde endlich auch die Frauen schützen, die ihr Kind vor der 24. Woche gebären. Die Staffelung sollte sich dabei an der Anzahl der Schwangerschaftswochen orientieren und das Angebot des gestaffelten Mutterschutzes nicht verpflichtend sein, denn natürlich, wenn eine Frau wieder arbeiten gehen möchte, dann sollte sie das auch tun dürfen. Aber keine Frau, die gerade ihr Kind verloren hat, sollte dazu gezwungen werden. Das ist mein Ziel und mein Wunsch.
Bist du mit der bisherigen Resonanz auf die Petition zufrieden?
Die Mitzeichnungsfrist der Petition ist nun beendet und zählt man die Unterschriften auf der Seite von openpetition und auf der Seite des Bundestags zusammen, so haben wir knapp 75.000 Unterschriften sammeln können. Das macht mich so glücklich! Sehr lesenswert sind übrigens die über 13.000 Kommentare zur Petition bei openpetition. Ich bekomme beim Lesen immer wieder eine Gänsehaut.
Ich bin gerade auf dem Weg nach Berlin, um Leni Breymaier, die Obfrau des Familienausschusses im Bundestag zu treffen, um mit ihr über den gestaffelten Mutterschutz zu sprechen. Aus SPD und FDP und der LINKEN kommen sehr positive Rückmeldungen und ich war mit meiner Mitstreiterin Daniela Nuber-Fischer von der Sternenkindersprechstunde München bereits zu einem Austausch im Bayerischen Sozialministerium, um auch auf Landesebene Verbesserungen anzustreben. Wir haben einen ganzen Forderungskatalog erstellt, denn es gibt noch viel zu tun. Enttäuscht bin ich aber von den GRÜNEN, den gerade aus dieser Partei hatte ich mir viel Unterstützung erhofft und renne bisher nur gegen verschlossene Türen – ich hoffe aber, dass sich auch das noch ändern wird.
Sowohl in deinem Buch als auch im Rahmen der Petition äußerst du Kritik am Gesundheitssystem. Was wünschst du dir im Umgang mit Betroffenen, die eine Fehlgeburt erleiden?
Ich wünsche mir, dass alle Frauen, die ihr Kind verlieren, auch die, bei denen es im ersten oder zweiten Trimenon passiert, ernst genommen und mit Respekt behandelt werden. Dass es mehr Aufklärung gibt, dass Frauen automatisch gesagt wird, dass ihnen eine Hebammenbetreuung zusteht, dass es nach einer Fehlgeburt mehrere Möglichkeiten gibt und es nicht immer eine Ausschabung sein muss. Dass, wenn die Frau eine Ausschabung möchte, sie nicht auf einem Flur mit Hochschwangeren und frischgebackenen Müttern liegen muss. Dass es einen einheitlichen Infoflyer mit allen wichtigen Informationen zu Fehlgeburten geben wird, dass schon im Aufklärungsunterricht in der Schule über Fehlgeburten gesprochen und erklärt wird, wie häufig sie sind und dass Frauen daran nicht schuld sind. Wir haben einen ganzen Forderungskatalog erstellt, der noch sehr viel mehr beinhaltet. Und wir gründen gerade einen Verein, der sich politisch für Themen rund um Frauengesundheit einsetzen wird. Hier freuen uns natürlich immer über Unterstützung. Mehr dazu findet man bald auf den Instagramprofilen von mir und Isa Grütering. Es gibt noch viel zu tun. Aber es lohnt sich für unsere Rechte zu kämpfen, und ich bin mir sicher, dass wir viel erreichen können.
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