ADHS Diagnose

Oh, mein ADHS – Diagnose und die Sinnkrise danach

Deadlines konnte ich noch nie gut halten. Schon in der Uni habe ich regelmäßig Verlängerungen für meine Haus- und Abschlussarbeiten bekommen, auch mehr als zehn Jahre später bestehen die Tage vor (mehrmals verschobenen) Abgabeterminen grundsätzlich aus Nachtschichten, literweise Kaffee und einer Menge Nervenzusammenbrüchen. Bei Verabredungen komme ich viel zu spät, bei Arztterminen viel zu früh. Mein halbes Leben lang habe ich mich gefragt, wieso mich auch kleine Dinge im Alltag so aus der Bahn werfen und ich so schnell erschöpft bin, wieso bei mir alles immer gleich so hochemotional sein muss – und mit 35 habe ich endlich die Erklärung: Diagnose ADHS. Bleibt nur noch die Frage, was von meiner Persönlichkeit bleibt, wenn plötzlich die Neurodivergenz an allem Schuld ist?

"Wenn ich eher von meinem ADHS gewusst und entsprechende Behandlung in Anspruch genommen hätte, wie viele Vorhaben hätte ich umsetzen, wie viele Ziele erreichen können, die ich gar nicht erst verfolgt habe, weil ich dachte, das schaffe ich sowieso nicht? Stünde ich an einem ganz anderen Punkt in meinem Leben, wenn nicht die letzten Jahre so von innerem Struggle und Selbstzweifeln zerfressen wären?"

Den größten Teil der letzten 20 Jahre habe ich damit verbracht, mich für mich selbst zu schämen und abzuwerten, weil ich nicht so funktioniere wie die Menschen in meinem Umfeld. Dass ich nicht in ein gewöhnliches Arbeitsumfeld gehöre, habe ich relativ früh verstanden – jedes Mal wieder, wenn ich einen neuen Job angenommen habe. Aber als ich dann sogar mit meiner Selbstständigkeit ins Schwimmen gekommen bin, hab ich ernsthaft an meiner Fähigkeit, das Leben zu bewältigen, gezweifelt: Wieso ist denn ausgerechnet bei mir immer alles komplizierter als nötig? Wieso kann ich nicht einfach weniger verpeilt und stattdessen organisierter, strukturierter und professioneller sein – so, wie alle anderen? Und muss ich echt jedes Mal so erschöpft sein bei dem bloßen Gedanken, die Waschmaschine anzustellen?

Die Diagnose hat lang ersehnte Klarheit gebracht: Das bin gar nicht ich, das ist das ADHS – eigentlich kann ich viel mehr, als der dauerhafte Erschöpfungszustand mich glauben lässt. Eigentlich bin ich sogar ziemlich krass, wenn man all die ADHS-Symptome abzieht, oder?
Und schon stellt sich nach der ersten Welle der Erleichterung die Traurigkeit ein. Die Vorstellung, wie viel Leid, innerer Selbstzweifel und unzählige Fehldiagnosen mir bei einer früheren Diagnose erspart geblieben wäre, öffnet ein völlig neues Fenster: das Fenster zu den Leben, die ich hätte leben können.
Wenn ich eher von meinem ADHS gewusst und entsprechende Behandlung in Anspruch genommen hätte, wie viele Vorhaben hätte ich umsetzen, wie viele Ziele erreichen können, die ich gar nicht erst verfolgt habe, weil ich dachte, das schaffe ich sowieso nicht? Stünde ich an einem ganz anderen Punkt in meinem Leben, wenn nicht die letzten Jahre so von innerem Struggle und Selbstzweifeln zerfressen wären? Würde ich glücklichere Beziehungen führen, vielleicht heute sogar unfassbar erfolgreiche Hollywood-Starautorin sein?

Oh, heiliges ADHS – ich habe endlich die Antwort!

Überraschend viele Frauen mit der Diagnose im Erwachsenenalter kennen diese Story: Jahre über Jahre geprägt von innerer Selbstabwertung und dem Gefühl, nie gut genug zu sein. Massive Erschöpfungszustände, depressive Verstimmungen und die ernsthafte Frage, wie sämtliche TherapeutInnen, ÄrztInnen – ja, auch die eigenen Eltern – und Lehrer*innen die Kondition übersehen konnten. Klar gab es bis vor kurzem noch keine Aufklärung wie es sie heute gibt, trotzdem: Wer sich einmal mit der Symptomatik beschäftigt, wird erkennen, es liegt so sehr auf der Hand, dass es lachhaft ist.

"Der Witz ist, diese Eigenschaften mag ich so gern, dass es mir schwerfällt, sie als ADHS-Symptome abzustempeln."

Das Fenster der verpassten Möglichkeiten wieder geschlossen; natürlich ist mir klar, dass auch eine Diagnose keine Wunderheilung bewirkt. Aber sie hilft ein großes Stück dabei, den Struggle von der eigenen Persönlichkeit zu trennen.
Es hilft, zu wissen, dass aufgrund meiner veränderten Hirnchemie einfach kein Dopamin übrig ist, um die Spülmaschine auszuräumen, wenn ich doch schon vorher den Wocheneinkauf erledigt habe. Oder dass unerwartete WhatsApp-Nachrichten von der Ex-Situationship mich komplett aus meinem Alltag raushauen und ich wahrscheinlich für den Rest des Tages nicht mehr fähig sein werde, meine Aufgabe zu bewältigen, weil mein Gehirn ab jetzt obsessiv nur noch mit einer einzigen Sache beschäftigt ist.
Es tut gut, endlich eine Erklärung für all das – für mich – zu haben, die über ‚reine Faulheit‘ hinausgeht. Was, ganz in ADHS-Manier, allerdings die nächste Frage aufwirft: Wenn all diese unliebsamen Eigenschaften auf meine Neurodivergenz zurückzuführen sind, gilt das dann auch für die Charakteristiken, die mich im Positiven ausmachen?

Dein ADHS als top Party-Entertainment

Auf Familienfeiern bin ich es meist, auf deren Kosten die witzigsten Stories erzählt werden. Weil mir aber auch die witzigsten Stories passieren – dank meiner Zerstreutheit habe ich schon unzählige Flüge verpasst, Hausschlüssel in Gullys geschmissen, Reisepässe verloren, die sich ausgerechnet dann in meinem Wäschekorb wiederfanden, als der neue Pass längst per Express beantragt war. Ich habe es sogar geschafft, ganze Jeansjacken im eigenen Haus zu verlieren (von Schmuck ganz zu schweigen). Oh ja, meine Stories sorgen auch im Freundeskreis immer wieder für Kopfschütteln und Schmunzler als Abend-Entertainment. Vielleicht sollte ich anfangen, Geld für das Erzählen meiner Geschichten zu nehmen.

Meine Abneigung gegenüber alldem, was mit viel Organisation und Planung verbunden ist, hat mir auf meinen Reisen bisher die aufregendsten, schönsten und erinnerungswürdigsten Momente und Begegnungen beschert (zum Leidwesen meiner Mitreisenden). Das, was für die meisten wie der absolute Horror klingt, ist für mich nicht nur normal, sondern auch ein Zustand, in dem ich mich am wohlsten fühle. Wo ganz normale, alltägliche Aufgaben wie das Putzen meiner Wohnung oder Lebensmitteleinkauf puren Stress auslösen, da blühe ich im Chaos regelrecht auf: Je chaotischer die Situation, je intensiver der Zeitdruck, desto ruhiger werde ich. Vielleicht ist das auch der Grund, wieso ich immer erst dann etwas Verwertbares auf Papier bekomme, wenn die Deadline quasi längst überschritten ist.

Meine veränderte Hirnchemie sorgt aber auch dafür, dass ich mich blitzschnell in neue Themen einlesen kann und manchmal tage-, sogar wochenlang in den sogenannten Hyperfokus tauche, in dem es nichts weiter gibt als mein neu entdecktes Interessengebiet und mich. Oft reicht ein Satz, um mich so schnell für neue Vorhaben oder Menschen zu begeistern, dass hinter mir nur noch aufgewirbelte Staubwolken zu sehen sind. Wenn ich wirklich von etwas überzeugt bin, kann ich andere schneller mitreißen, als mir lieb ist – nicht selten verebbt diese anfängliche Begeisterung aber bald wieder. Eine der wohl klassischsten und am meisten kritisierten Eigenschaften von ADHSlern: Viele Dinge anfangen und wenige davon zu Ende bringen. Aber so sehr ich in Zeiten des Struggles glaube, mit der Welt nicht Schritt halten zu können, so sehr denke ich in Hochphasen wie diesen, die verdammte Welt gehört mir.

Die Sinnkrise – oder: Wer bin ich ohne?

Der Witz ist, diese Eigenschaften mag ich so gern, dass es mir schwerfällt, sie als ADHS-Symptome abzustempeln. Ich liebe Abwechslung! Ich liebe Chaos! Heißt das jetzt, dass die Dinge, von denen ich dachte, sie machen mich aus, in Wahrheit gar nicht meine eigene Persönlichkeit sind? Sondern nur ADHS? Bedeutet das jetzt, dass ich ohne ADHS gar nicht so zerstreut, kreativ und gefühlsintensiv wäre? Oh oh – schon rollt sie an, die Welle der Sinn- und Hoffnungslosigkeit. Was ist denn bitte mein Leben – wer bin denn ich, wenn mein ADHS nicht wäre? Bin ich im Kern vielleicht sogar ein total organisierter und strukturierter Mensch? Unwahrscheinlich, aber wie viel Anteil von meiner Persönlichkeit nimmt das ADHS ein und wieso hat mich eigentlich niemand gewarnt, dass die Diagnose fast mehr neue Fragen aufwirft, als alte zu beantworten?

"ADHS ist für mich keine Krankheit, die geheilt werden muss, sondern eine Chance, das Leben nach dem eigenen Rhythmus zu gestalten. Wieso versuchen, uns einer Gesellschaft anzupassen, die wir doch mit unserer Andersartigkeit viel bunter machen können?"

Ok, kurze Pause, Luft holen, raus aus dem Gedankenkarussel. Wahrscheinlich werde ich nie genau sagen können, wie viel Anteil Ich, und wie viel Anteil ADHS ich bin. Vielleicht ist es am Ende auch gar nicht so wichtig. Denn ich habe ADHS, ob ich will oder nicht. Es ist ein Teil von mir – und vielleicht geht es genau darum: All die Symptome, die guten und die schlechten gleichermaßen als meine Persönlichkeit anzunehmen. Dadurch werden die dunklen Seiten der ADHS-Eigenschaften nicht gleich verschwinden, aber es ist ein erster Schritt in Richtung Selbstakzeptanz und mehr Zufriedenheit. Und ist es nicht ironisch? Die besondersten und interessantesten Menschen, die ich kennenlerne, sind oft ADHSler. Bei ihnen kann ich die Anteile, die ich in mir selbst so lange abgelehnt habe, ganz einfach lieben. Weil sie jemanden nicht weniger liebenswert, sondern umso faszinierender machen. ADHS bei anderen wirkt auf mich erfrischend, kreativ, erleichternd und voller Lebensfreude. Vielleicht ist es eine Art eingebautes Radar, mit dem wir uns gegenseitig finden können, damit wir uns gesehen fühlen in unserer Sprunghaftigkeit, Impulsivität und im Kampf mit uns selbst, denn voreinander ist es schwierig, das zu verstecken.
Und wieso sollten wir versuchen, zu verstecken, wer wir sind, mit all unserer Leidenschaft und unserer emotionalen Tiefe? ADHS ist für mich keine Krankheit, die geheilt werden muss, sondern eine Chance, das Leben nach dem eigenen Rhythmus zu gestalten. Wieso versuchen, uns einer Gesellschaft anzupassen, die wir doch mit unserer Andersartigkeit viel bunter machen können? Denn so eigentümlich unsere Arbeitsweise sein mag, einen großen Vorteil bringen wir dem Rest der Welt: Wenn die Dinge wie so oft mal anders laufen als geplant und alles im Chaos niederbrennt, dann sind vor allem wir diejenigen, die aufleben, im Chaos gedeihen und in Nullkommanichts kreative Lösungen finden. Wir kennen es ja nicht anders.

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