Alexandra Zykunov Interview
Foto: Hans Scherhaufer

Alexandra Zykunov, hat dich die Recherche für dein neues Buch nicht wahnsinnig wütend gemacht?

Wisst ihr noch, wie Alexandra Zykunov im vergangenen Jahr mit ihrem ersten Buch "Wir sind doch alle längst gleichberechtigt!" jede Menge Bullshitsätze à la "Unsere Omas haben das schließlich auch ganz allein geschafft" oder "Mein Mann würde so gerne Elternzeit nehmen, aber bei ihm geht das leider nicht" zerlegt hat? Hach ja, das war schön. Und wichtig! Denn spätestens nach der Lektüre dieses Buches haben damals vermutlich alle verstanden, wie patriarchale Strukturen funktionieren und wie ihr ihnen entgegentreten sollten. Apropos patriarchale Strukturen: Wusstet ihr, dass 75 Prozent aller Chefredakteure sowie Lehrstuhlinhaber in Deutschland Männer sind? Und dass eine Frau hierzulande 18 Prozent weniger verdient als ein Mann? Eine migrantische Frau verdient übrigens bis zu 35 Prozent weniger als ein Mann. Und wusstet ihr, dass Frauen bis zu 180.000 Euro jährlich bekommen müssten, wenn Care-Arbeit bezahlt werden würde? Tja, ich würde mich vermutlich wiederholen, wenn ich auf ein Neues auf die patriarchalen Strukturen zu sprechen käme. Aber sorry Leute, genau so ist es. Und genau in diese Wunde – und die tut weh, oh ja – legt Alexandra Zykunov mit „Was wollt ihr denn noch alles?!“ den Finger. Wir haben uns mit der Autorin über ihr neues Buch, die Rolle von Baldrian bei der Recherche und viel viel viel weibliche Wut unterhalten.

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Alexandra, als du im Frühling dein neues Buch „Was wollt ihr denn noch alles?!“ angekündigt hast, hast du im selben Atemzug die Empfehlung mit auf den Weg gegeben, sich beim Kauf des Buches auch eine Großpackung Baldrian zu besorgen – erklär uns bitte einmal diesen Kauftipp der etwas anderen Art!

Alexandra Zykunov: Als ich „Wir sind doch alle längst gleichberechtigt!“ geschrieben habe, habe ich gemerkt, dass ich wütend werde. Wegen der Zahlen, der Statistiken und Mindblows, die man bekommt, wenn man beginnt, das System zu durchblicken. Insofern wusste ich bereits beim Schreiben, dass es ein wütendes Buch werden wird. Was ich hingegen nicht wusste, war, ob diese verschriftlichte Wut auch wirklich rüberkommen wird. Doch sie kam rüber und ich habe Tausende Zuschriften von Frauen bekommen, die beim Lesen wütend geworden sind. In diesem Zusammenhang erreichte mich auch der eine oder andere augenzwinkernde Hinweis, das Buch zusammen mit einer Packung Baldrian, einem Gin Tonic oder einem Megafon zu verkaufen, um wichtige Passagen laut von den Dächern vortragen zu können (lacht). Da merkte ich: Die Wut ist angekommen. Aus dieser Erfahrung und dem Wissen, wie viel wütender ich beim Schreiben von „Was wollt ihr denn noch alles?!“ geworden bin, habe ich im voreilenden Gehorsam den Baldrian-Hinweis ausgesprochen. Dieser sollte natürlich absolut augenzwinkernd verstanden werden, denn ich feiere jede Frau, die wütend wird.

Zumal Wut ja nicht zwingend etwas Schlechtes ist …

Genau, vor allem weibliche Wut ist wichtig und politisch. Frauen wird in der Regel anerzogen, bloß nicht wütend zu werden, lieber viel zu lächeln, zu besänftigen, auf Harmonie zu achten, sich mit weniger zufrieden zu geben usw. Insofern muss ich eigentlich empfehlen, beim Lesen auf Baldrian zu verzichten und vielmehr so richtig wütend zu werden. Wir Frauen durften Jahrhundertelang nicht wütend werden – jetzt ist es an der Zeit!

Alexandra Zykunov Interview

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Lass uns bei der Wut bleiben – hat dich die Recherche für die Zahlen und Fakten des Buches nicht wahnsinnig wütend gemacht?

Oh ja, das hat sie! Beim Recherchieren gab es viele Momente, in denen ich einfach nur dachte 'WTF?!'. Je tiefer ich in diesen patriarchalen Kaninchenbau aus Fakten und Statistiken versank, umso mehr Momente gab es, in denen ich einfach nur 'Das ist doch nicht euer Ernst!' zu mir selbst in meinem Arbeitszimmer gerufen habe. Insofern war die Recherche alles andere als teflon-mäßig, indem alles an mir abprallt – im Gegenteil. Ich persönlich empfinde Wut jedoch nicht als eine negative Eigenschaft und finde, jede Frau sollte darin empowert werden, diese Wut zu nehmen und zu spüren. Natürlich macht es einen Unterschied, ob diese Wut irgendwann in Aggressivität umschlägt und destruktiv wird, oder ob sie konstruktiv bleibt. In meinem persönlichen Fall kanalisiere ich meine Wut, indem ich sie in meine Bücher hineinbrülle.

Was ist mit denen, die vielleicht nicht die Möglichkeit haben, ihre Wut durch ihren Job zu kanalisieren?

Auf der einen Seite scheint es oft, als seien wir alle nur kleine Rädchen, die in einem großen System ohnehin nichts bewirken können. Auf der anderen Seite sind wir aber ein effektiver Teil dieses Systems. Wir alle arbeiten irgendwie mit Menschen zusammen, manche können ihre Arbeit nutzen, um auf Ungerechtigkeiten hinzuweisen. Und so werden meine Bücher auch etwa von Pädagog*innen, Lehrer*innen oder Erzieher*innen gelesen, die an riesigen Rädchen drehen können. Vielleicht lesen auch Anwält*innen mein Buch, die möglicherweise Frauen bei Gewalterfahrungen in Beziehungen oder Benachteiligungen im Job vertreten. Auch hier kann an wichtigen Rädchen gedreht werden – sofern verstanden wird, dass strukturelle Probleme vorherrschen. Möglicherweise lesen auch Menschen mein Buch, die in der Personalabteilung tätig sind und verstehen, dass Frauen aufgrund von Unconscious Gender Bias benachteiligt wurden. Was ich damit sagen will: Viele Menschen werden Wut empfinden. Und ja, man kann sich machtlos fühlen, aber beim genauen Hinsehen sind wir alle Teil des Systems. Deswegen sollten wir uns mit unserer Wut nicht ohnmächtig fühlen, sondern sie in jene Richtungen kanalisieren, die uns unser Beruf oder ein Ehrenamt ermöglicht.

War für dich von Anfang an klar, wie wahnsinnig viele Bereiche das Buch abdecken würde? Wir blicken heute immerhin auf ein Werk von knapp 300 Seiten und mehr als 400 Quellen.

Mir war von Anfang an bewusst, dass das Buch sehr viele Bereiche abdecken würde. Diskriminierung von Frauen und weiblich gelesenen Personen, aber auch von anders und mehrfach marginalisierten Gruppen wie People of Color etwa oder Transmenschen ist in buchstäblich jedem Bereich unseres Lebens vorhanden. Unser gesamtes öffentliches, kulturelles, privates Leben ist durchdrungen von patriarchalen Strukturen, die alle Menschen benachteiligen, die nicht der mittelalte, weiße, heterosexuelle Cis-Mann sind. Das Recherchieren war demnach in vielen Bereichen eine never-ending-Story: Du guckst in die eine Statistik, gerätst dann in die nächste und die nächste und die nächste … Dabei habe ich festgestellt, wie verzweigt dieser Kaninchenbau ist, in dem ich mich befunden habe. Insofern hätte aus meinem Buch auch eine Art Enzyklopädie werden können (lacht).

Die Zahlen und Fakten, die du darlegst, sind nicht nur bittere Realität, sondern auch oftmals vollkommen unbekannt – warum laufen aber Tatsachen, dass beispielsweise Frauen eine 32 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit haben, bei einer Operation zu sterben, wenn sie von einem männlichen Arzt operiert werden, immer noch so dermaßen unter dem Radar?

Wenn ich das nur beantworten könnte! Man muss dazu sagen, dass wir immerhin so weit sind, dass die Studien, auf die ich mich beziehe, immerhin zu einem großen Teil eine gewisse mediale Präsenz erlangt haben. Damit meine ich nicht nur Fachliteratur, sondern auch Mainstream-Medien. Die Studie, die du beispielsweise hier zitierst, war eine große Schlagzeile in „The Guardian“, ehe sie es irgendwann in die deutsche Presse geschafft hat. Wir wissen aber auch, wie wahnsinnig schnelllebig Nachrichten sind. Dazu kommt, dass es weiblich besetzten Themen häufig an Präsenz fehlt. Werden Journalist*innen etwa auf bestimmte Gesundheitsthemen in Fach-Journalen aufmerksam, gilt es, diese Themen zunächst einmal in den Chefredaktionen der entsprechenden Medienhäuser zu pitchen. Der Blick in diese Führungsetage zeigt aber: 70 bis 90 Prozent der Chefredaktionen sind männlich besetzt. Hier kommt der psychologische Aspekt ins Spiel: Denn die Chefredakteure können sich in der Regel nicht mit weiblich besetzten Themen, wie zum Beispiel PMS oder Endometriose, identifizieren. Die Wahrscheinlichkeit, weiblich gelesenen Themen also eine mediale Bühne zu geben, ist deutlich geringer, als wäre ein männlich konnotiertes Thema gepitched worden. Selbiges Beispiel lässt sich natürlich auch auf andere Institutionen wie Universitäten oder Politik anwenden.

"Es mag etwas desillusionierend sein, aber meiner Meinung nach lohnt sich nicht jeder Kampf. Denn nicht mit jedem Großonkel, Geschäftsführer oder konservativen Vater aus der Elterngruppe kann gleichermaßen Austausch stattfinden."

Es gibt also jede Menge Rädchen, die gedreht werden müssen, um einem Thema mediale Präsenz zu verleihen …

Absolut! Es ist ein sehr großes Problem, dass sehr viele dieser Rädchen von Menschen besetzt sind, die weiblich konnotierte Themen nicht tangieren. Sprich, mit dem mittelalten, weißen, heterosexuellen Cis-Mann. Um also auch nochmal auf die eben angesprochene Studie zurückzukommen: Die Hälfte der Bevölkerung läuft also eine 32 Prozent höhere Gefahr, auf einem Operationstisch zu sterben, wenn sie von einem männlichen Chirurgen operiert wird. Wir sprechen hier also von lebensgefährlichen Zuständen, die die Hälfte der Bevölkerung betreffen – doch meistens weiß besagte Hälfte der Bevölkerung davon nichts. Das ist absolut gruselig. Noch gruseliger ist, dass unterschiedliche patriarchale Strukturen bewirken, dass genau dieser Zustand so bleibt, wie er ist.

Dein Buchtitel „Was wollt ihr denn noch alles?!“ nimmt ironisch Bezug auf uns Frauen – lass uns hier aber auch über die Männer sprechen: Was sollen Männer wollen?

Im besten Fall wollen Männer dasselbe wie wir Frauen und sind sich darüber bewusst, dass sie dann auch gewisse Privilegien abgeben oder teilen müssen. Und denjenigen, die Frauen diese augenzwinkernde Frage wirklich ernsthaft stellen, könnte man die Gegenfrage stellen, was sie denn unbedingt beibehalten wollen, indem sie uns diese Frage stellen. Denn jene Männer, die Frauen wirklich fragen, was sie denn noch alles wollen, halten offenbar an den bisherigen Strukturen fest. Bedeutet: Die Person müsste sich in diesem Fall kritisch mit sich selbst auseinandersetzen. Aber – nennen wir ihn an dieser Stelle einmal – Günther will sich in den meisten Fällen mit diesen Privilegien nicht beschäftigen. Weil diese Auseinandersetzung weh tut und emotionale Themen zeigt, die ins private Leben eingreifen. Sprich: Habe ich als Mann meine Karriere eventuell auf dem Rücken meiner Frau aufgebaut? Habe ich meine Frau mit meinen Entscheidungen, nicht in Elternzeit oder Teilzeit zu gehen, in die Altersarmut gedrängt? Habe ich meinem Sohn vorgelebt, dass auch er später seine Frau in dieselbe Falle drängen wird? Habe ich als männlicher Chef eventuell weibliche Kolleginnen unterbewusst schlechter bewertet, niedriger eingestuft und sie seltener befördert? Diese Fragen tun weh, wer will sich damit schon ernsthaft auseinandersetzen? Insofern ist es als Mann, der stets von diesem System profitiert hat, zwar notwendig, aber entsprechend hart, sich diesen Vorwürfen zu stellen. Deswegen glaube ich, dass ein Großteil der Männer, die von dem System profitieren, diese schmerzhafte Analyse nicht ganz freiwillig über sich ergehen lassen werden. Aber sie müssen. Denn ohne Männer wird es nicht gehen.

Wie sehr lohnt sich jeder Kampf, den man kämpft?

Diese Frage wird in meinen Lesungen häufig thematisiert. Es mag etwas desillusionierend sein, aber meiner Meinung nach lohnt sich nicht jeder Kampf. Denn nicht mit jedem Großonkel, Geschäftsführer oder konservativen Vater aus der Elterngruppe kann gleichermaßen Austausch stattfinden. Daher sollte die Devise „Pick your battles“ vor allem im feministischen Bereich und in den Kämpfen, die in diesem Bereich stattfinden, bedacht werden. Niemandem nützt es etwas, wenn ich jeden noch so aussichtslosen Kampf mitkämpfe und meine Energie dafür verbrauche, während besagter Günther sich nicht wandeln wird und bei seinen konservativen Einstellungen bleibt. Vielmehr sollte man sich jenen zuwenden, die sich offen für Veränderungen zeigen.

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