Gewalt bei der Geburt

Gastbeitrag | Meine Aha-Momente: Wie ich lernte, dass ich Gewalt bei der Geburt meines Kindes erlebt hatte

Viele Frauen erleben bei der Geburt ihres Kindes Gewalt und Fremdbestimmung. Viele von ihnen verstehen überhaupt nicht, was ihnen passiert ist. Ich zu Anfang auch nicht. Heute, fast neun Jahre später, weiß ich genau, was mir passiert ist. Ich habe ein Buch darüber geschrieben: „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen! Was Frauen für eine selbstbestimmte Geburt wissen müssen“ heißt es. Hier kommen meine wichtigsten Aha-Momente.

Ein Gastbeitrag von Lena Högemann

"Ich saß nach der Geburt auf meinem Sofa, mein niedliches Baby im Arm und spürte nichts. Da war keine Liebe, dabei hatte ich mich doch so auf das Kind gefreut. Ich war weder traurig noch wütend, ich war nichts und niemand. Ich war völlig zerstört. Ich dachte, ich hätte etwas falsch gemacht."

Die Fakten sprachen eigentlich für sich: Zig Eingriffe in die Geburt, die ich nicht wollte und, die medizinisch überhaupt nicht notwendig waren. Am Ende eine Saugglockengeburt, bei der die Ärztin meinen Damm aufschnitt – ohne mich um Einverständnis zu bitten oder mich auch nur zu informieren. Eine Hebamme, die mich nicht unterstützte, sondern Dinge sagt wie „Das reicht nicht“, „Das wird so nichts“ und „Weinen hilft dir jetzt auch nicht.“ Das ist alles ist typisch für Gewalt bei der Geburt. Bis zu jede zweite Gebärende erlebt körperliche oder psychische Gewalt, während sie ihr Kind zur Welt bringt.

Und trotzdem: Ich saß nach der Geburt auf meinem Sofa, mein niedliches Baby im Arm und spürte nichts. Da war keine Liebe, dabei hatte ich mich doch so auf das Kind gefreut. Ich war weder traurig noch wütend, ich war nichts und niemand. Ich war völlig zerstört. Ich dachte, ich hätte etwas falsch gemacht. Vielleicht hatte ich die Hebamme provoziert und sie war deshalb so gemein zu mir? Ich dachte, ich sei schuld an dem, was mir passiert war. So könnten doch Geburten sonst nicht sein. Heute möchte ich davon erzählen, wie ich verstanden habe, dass ich Opfer von Gewalt geworden bin, Opfer von Gewalt in der Geburtshilfe.

„Ich bin nicht allein!“

Als meine Tochter einige Monate alt war, suchte ich mir eine neue Hebamme. Meine Beleghebamme war während der Geburt so furchtbar gewesen und auch in der Zeit danach nur gestresst und überhaupt nicht empathisch. Die neue Hebamme kam und fragte mich: „Wie geht es dir?“ So, wie sie das sagte, merkte ich, dass sie es wirklich wissen wollte. Ich fing an zu weinen und hörte eine Weile nicht wieder auf. Die Hebamme erklärte mir, dass es vielen Frauen so ginge wie mir und schickte mich in eine Beratungsstelle. Einige Wochen später saß ich auf einem Kissen in einem großen, hellen Raum in Berlin-Pankow. Mit mir saßen etwas zehn Frauen im Zimmer, wir saßen im Kreis. Wir tranken Tee und erzählten reihum von unserer Geburt. Die Frau, die links neben mir saß, weinte die ganzen zwei Stunden lang, sie konnte noch nicht von ihrer Geburt sprechen. Geleitet wurde die Gruppe von einer Trauma-Therapeutin. Ich blickte mich im Raum um und lauschte den Frauen. Viele Frauen weinten, einige wurden wütend. Jede von uns hatte Gewalt und Demütigung erlebt und große Sorgen um sich und ihr Kind gehabt. Auch ich erzählte von meiner Geburt. So viel Mitgefühl wie in diesem Raum habe ich noch nie erlebt, so viel Verständnis auch nicht. Als die Gruppe nach zwei Stunden endete und ich zurück nach Hause fuhr, verstand ich: „Ich bin nicht allein.“ Viele Frauen haben erlebt, was ich erlebt habe, und die Folgen sind ähnlich: Eine fehlende Bindung zum Kind, Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen – wie Albtraume, Flashbacks und Panikattacken. Ich ging ab da jeden Monat in diese Gruppe.

Ich wusste jetzt also, dass es Gewalt unter der Geburt gab. Warum aber hatte mich diese Hebamme so fertig gemacht? Warum hat sie mich nicht unterstützt. Das machte alles keinen Sinn für mich.

"Als ich für mein Buch tiefer recherchierte, warum so viele Hebammen so gemeine Dinge zu gebärenden Frauen sagen, erfuhr ich vom „Coolout-Phänomen“. Bei dauerhaftem Stress und Überforderung können Hebammen, Ärzt*innen und Pflegekräfte völlig abstumpfen, sind dann komplett empathielos."

„Ich kann nichts dafür“

Als meine Tochter fünf Monate alt wurde, wollten wir sie taufen lassen. In unserer Kirchengemeinde sollte an einem Samstag ein Taufgottesdienst stattfinden, bei dem unsere Tochter und ein anderer Junge getauft werden sollten. Wir trafen uns vorab mit der anderen Familie, saßen zusammen und sprachen über vieles. Die Mutter erzählte, wie schwer es in ihrem Beruf ist, in Teilzeit zu arbeiten und welche Diskriminierungen sie erlebt hatte. Ich mochte sie. Irgendwann kamen wir auf die Geburt zu sprechen. Es stellte sich raus: Die Frau hatte die gleiche Beleghebamme gehabt wie ich. Ich fragte sie, wie sie die denn fand. Und die andere Mutter sagte: „Die ist hart, aber ich mag das.“ Sie erzählte von ihren Geburten – der Junge war ihr zweites Kind. Wenn sie sagte „Ich brauche eine Pause“ hatte die Hebamme gesagt: „Hier gibt es keine Pause.“ Für die andere Mutter war klar: „Dieser Soldaten-Ton, das brauche ich bei der Geburt.“

Im ersten Moment konnte ich gar nicht verstehen, was diese Frau mir erzählte. Diese Hebamme macht also jede Frau so fertig, nur, dass dieser Mutter das bei der Geburt geholfen hatte. Mich hat es traumatisiert. Heute denke ich, dass die Hebamme das ja anbieten könnte: „Ich bin die mit dem Soldaten-Ton, ich treibe dich durch die Geburt“ – könnte sie auf ihre Webseite schreiben. Dann könnten Frauen frei wählen, ob sie so bei der Geburt begleitet werden möchten. Ich hätte das definitiv nicht gewollt.

Viel wichtiger war aber dieser zweite Aha-Moment für mich, weil ich verstand: „Ich kann nichts dafür!“ Diese Hebamme behandelt jede Frau bei der Geburt so, dass ist ihre Art. Als ich für mein Buch tiefer recherchierte, warum so viele Hebammen so gemeine Dinge zu gebärenden Frauen sagen, erfuhr ich vom „Coolout-Phänomen“. Bei dauerhaftem Stress und Überforderung können Hebammen, Ärzt*innen und Pflegekräfte völlig abstumpfen, sind dann komplett empathielos. So ungerecht es ist, dass diese Menschen tatsächlich auch heute noch im Kreißsaal arbeiten, ist es doch wichtig, dieses Phänomen zu kennen und das Gesagte eben nicht auf sich selbst zu beziehen.

Lena Högemann

Lena Högemann

„Es ist das System, das schuld ist“

Der Weg zurück zu mir nach dieser gewaltvollen und traumatischen Geburt war lang und steinig. Ein wichtiger Punkt auf diesem Weg war es, genau zu verstehen, wie meine Geburt abgelaufen ist. Ich habe mir dafür die Akte aus der Klinik angefordert und sie mit einer unabhängigen Hebamme besprochen. Sie erklärte mir auch, wie unnatürlich die Eingriffe in meine Geburt waren und das eines zum andren führen musste – Interventionskaskade nennt sich das, auf einen Eingriff folgt der nächste.

Ich beschloss, mich bei der Klinik zu beschweren. Ich schrieb einen neun Seiten langen Beschwerdebrief und erwähnte darin, dass ich als Journalistin arbeite und mir offenhalte, über das, was ich erlebt hatte, zu schreiben. Wenige Tage später rief mich der Chefarzt persönlich an und lud mich zum Gespräch ein. Er würde ja sonst nur Dankeskarten bekommen, hat er am Telefon zu mir gesagt.

Da saßen wir also in einem kleinen Zimmer auf der Geburtsstation: Der Chefarzt und die Oberärztin, mein Partner, die Trauma-Therapeutin und ich. Wir waren mehr, das war gut. (Ganz wichtiger Tipp: Niemals allein in die Klinik gehen!) Ich trug meine Punkte vor, kritisierte das medizinische Vorgehen ebenso wie die Art und Weise, in der man mit mir bei der Geburt und auf der Wochenbettstation gesprochen hatte. Der Chefarzt sagte, es täte ihm leid, wenn ich mich nicht gut behandelt gefühlt hätte, eine klassische Nonpology – eine Nicht-Entschuldigung. (Zweiter Tipp: Niemals erwarten, dass sich ein Arzt entschuldigt!) Der Chefarzt sagte zu mir, dass ich endlich das Schöne an dieser Erfahrung sehen sollte. Immerhin sei das Kind gesund und es war kein Kaiserschnitt!

In diesem Satz „Hauptsache, das Kind ist gesund!“ steckt so viel, was im System Geburtshilfe und im Umgang mit jungen Müttern schiefläuft. Denn tatsächlich zählt in vielen Kliniken nur, dass das Kind gesund auf die Welt kommt. Die Oberärztin in diesem Gespräch unterschied mehrfach zwischen „geburtsmedizinisch“ und „psychologisch“ – als würde nicht beides gehen: Ein gesundes Baby und eine gesunde Mutter. Natürlich geht beides, sie müssten sich nur etwas mehr Mühe geben, die Frau, die zur Geburt kommt, als Individuum zu sehen – mit eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen. Eben das passiert in vielen Kliniken nicht. Es wird nach Routinen abgearbeitet, auch bei Geburten.

Klar wurde mir das, als ich kritisierte, dass man mich ohne mein Einverständnis und ohne mich auch nur zu informieren an der intimsten Stelle meines Körpers ausgeschnitten hatte. „Das können Sie doch nicht machen“ sagte ich. Es stellt sich raus: Doch, können. Und sie machen das immer so. Meine Recherchen haben gezeigt, dass es genau einen medizinischen Grund für einen Dammschnitt gibt: Dann, wenn das Baby sofort auf die Welt kommen muss, weil die Herztöne so schlecht sind, dann kann man den Dammschnitt machen. Das kommt selten vor. Alles andere ist medizinische Routine und nicht medizinische Indikation. In der Klinik, in der ich war, werden Dammschnitte routinemäßig gemacht. Sie werden weder angekündigt, noch werden die Frauen um Zustimmung gebeten. Da wurde mir klar: „Es ist das System, das schuld ist.“ Im System Geburtshilfe verfügen Ärzt*innen und Hebammen über die Körper von Frauen, auch heute noch, im Jahr 2024. Hier läuft etwas richtig schief.

Und jetzt?

Ich habe in meinem Buch meine Erkenntnisse und Recherchen der letzten Jahre zusammengetragen, mit zwei Zielen:
1. Ich möchte Frauen und ihrer Begleitung, die ein Kind in einem Krankenhaus bekommen möchten, die wichtigsten Informationen geben, um sich auf eine selbstbestimmte Geburt vorbereiten können. Wissen ist Macht!
2. Ich möchte, dass Frauen nach einer Geburt, die nicht so war, wie sie es wollten, wissen: Sie sind nicht allein. Sie können nichts dafür. Schuld ist das System Geburtshilfe. Mittlerweile gibt es Gesprächsgruppe und Psychotherapeutinnen, die Frauen nach belastenden Geburten helfen.

Hilfsangebote:

Das Hilfetelefon nach schwierigen und belastenden Geburten von Mother Hood e.V. erreicht ihr unter 0228 92 95 99 70, mehr im Internet unter: https://hilfetelefon-schwierige-geburt.de/

Gesprächsgruppen für Frauen nach belastenden Geburten und Psychotherapeutinnen gibt es auf der Seite von Schatten und Licht e.V.: https://schatten-und-licht.eu/

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