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Grenzen setzen – bin ich noch empathisch oder schon naiv?
Ich habe immer die Menschen bewundert, die anderen klare Grenzen setzen, egal ob im Job, in Freundschaften, Familien oder Beziehungen. Eines dieser Dingen, die ich selbst nie gut konnte, weil ich nicht wusste, wie das richtig geht. Was ich allerdings gut konnte, war, schnell mit anderen Menschen mitzufühlen, ganz empathisch zu sein - nur haben sich in meinem Verständnis Mitgefühl und Grenzen setzen gegenseitig ausgeschlossen. Nachdem ich mich lange dafür verurteilt habe, nur eines von beiden zu können, erkenne ich heute: ist eigentlich gar nicht so schlimm.
" Ich glaube, wenn wir zu radikal Grenzen ziehen, verbauen wir uns viel Potenzial im Miteinander und nehmen unserem Gegenüber den Raum, die eigenen Grenzen auszuloten."
Grundsätzlich würde ich sogar behaupten, ich bin ziemlich gut darin, Entscheidungen zu treffen, die mir helfen, das Leben aufzubauen, das ich leben möchte, egal, was mein Umfeld von mir erwartet. Trotzdem finde ich mich, wenn es um mir nahestehende Menschen geht, häufig in Situationen wieder, in denen ich, statt Grenzen zu setzen, über meine eigentlich ursprünglichen Entscheidungen hinweggehe. Die Enttäuschung, es besser zu wissen, aber dennoch nicht umzusetzen, macht mir Druck und führt mich wieder in einen Kreislauf der Selbstverurteilung.
Erst kürzlich habe ich jemandem eine zweite Chance gegeben, obwohl ich mir doch zwei Monate vorher geschworen hatte, diesmal konsequent zu meinen Grenzen zu stehen. Stattdessen habe ich, aus lauter Verständnis für seine aktuell schwierige Situation, meine Grenzen wieder geöffnet – und zweifle gleichzeitig an meinem eigenen Verstand:
Wieso gehe ich denn jetzt schon wieder Kompromisse ein, wenn ich standhaft sein wollte?
Vielleicht haben meine Freundinnen recht, wenn sie sagen, ich mache hier einen Fehler. Vielleicht führt diese Situation nur an den Punkt, an dem ich ohnehin vor zwei Monaten stand, vielleicht gibt es hier keine neuen Erfahrungen oder Erkenntnisse und es wäre sinnvoller, den Schlussstrich zu ziehen.
Aber wenn Selbstliebe heißt, Grenzen zu setzen, dann ist es genauso wichtig, uns selbst gegenüber empathisch zu sein, wenn wir nicht tun, was wir eigentlich hätten tun sollen.
Wenn das Bedürfnis nach Nähe größer ist, als das Richtige zu tun
Wahrscheinlich liegt die Kunst darin, sich selbst die Erlaubnis zu geben, die eigenen Grenzen nicht benennen zu können, sie etwas verschwimmen zu lassen. Uns die Erlaubnis zu geben, erst mit der Zeit zu erkennen, wo wirklich Grenzen nötig sind – oder gewesen wären. Weil das der einzige Weg ist, unser Leben wirklich zu erleben. Wir können uns eben nicht vor allem schützen, dann lernen wir ja auch nicht. Wenn wir uns bei jedem kleinsten Anzeichen von Red Flags umdrehen und weglaufen, nehmen wir uns die Chance auf echte Begegnungen. Um anderen überhaupt die Möglichkeit zu geben, unsere Grenzen zu respektieren, dürfen wir erst einmal offen und verständnisvoll auf andere zugehen. Ich glaube, wenn wir zu radikal Grenzen ziehen, verbauen wir uns viel Potenzial im Miteinander und nehmen unserem Gegenüber den Raum, die eigenen Grenzen auszuloten. Und auch, wenn es mal schief geht, wenn wir aus der Situation gehen und uns wünschen, weniger verständnisvoll gewesen zu sein, früher Grenzen gezogen zu haben: Manchmal müssen wir genau bis zu diesem Punkt kommen, um es wirklich zu verstehen. Weil wir bis zu diesem Zeitpunkt einfach nicht bereit waren, auf unsere Intuition oder unsere Freunde zu hören, die es besser wussten. Weil das Bedürfnis nach dieser Erfahrung größer war als der Drang, Grenzen zu ziehen – oder das Richtige zu tun.
"So groß mein Wunsch auch ist, stärkere Grenzen zu ziehen, möchte ich nicht zu der Person werden, die sich vor anderen – oder vor dem Leben verschließt, aus Angst, verletzt zu werden."
„Weißt du, ich halte nicht viel von diesem ganzen harten, krassen Boundaries ziehen. Du musst doch immer gucken, was dein Herz will. Und wenn das jetzt gerade für dich funktioniert, dann ist das so. Ist doch egal, was richtig ist – und wenn du wieder auf die Schnauze fällst, dann weinst du halt ein bisschen, stehst auf, richtest dein Krönchen und gehst weiter, wie du es immer gemacht hast.“ Das war der Satz, den meine ehemalige Mitbewohnerin und beste Freundin aus München zu mir sagte, nachdem ich sie angerufen hatte, um zu fragen, ob auch sie glaube, ich könne Realität nicht von Wunschvorstellung auseinanderhalten. Ihre Aussage fasst all das ziemlich gut zusammen: So groß mein Wunsch auch ist, stärkere Grenzen zu ziehen, möchte ich nicht zu der Person werden, die sich vor anderen – oder vor dem Leben verschließt, aus Angst, verletzt zu werden. Und deshalb bin ich lieber einmal zu häufig empathisch, als einmal zu häufig Grenzen zu ziehen – denn aufrichten kann ich mich immer wieder, das können wir alle, das haben wir uns oft genug selbst bewiesen. Egal, wie schwach wir uns am Ende vorkommen mögen: Wir sind nicht diejenigen, die schwach waren. Wir haben uns für unser Herz entschieden, und das ist die mutigste Entscheidung überhaupt.
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