Selbstliebe Beziehungen
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Müssen wir uns erst selbst lieben, um glückliche Beziehungen zu führen? Müssen wir nicht!

Es heißt immer, wir müssten uns erst selbst lieben, bevor wir eine Beziehung eingehen. Wir müssten zu uns finden, lernen, allein zu sein, bevor wir mit einem anderen Menschen glücklich sein können. Nach fast zehn Jahren Single-Dasein lautet meine Meinung dazu ganz klar: Nein, müssen wir nicht. Oder zumindest nur ein bisschen. Auf gewisse Art. Um es mit dem Facebook-Beziehungsstatus auszudrücken: Es ist kompliziert. Vom Versuch, zwei Widersprüche zu vereinen.

"Erst einige Zeit (und einige abenteuerliche Datingversuche) später kam ich auf die Idee, dass ich, auch wenn ich mir eine Beziehung wünschte, nicht unbedingt dafür bereit war. Also setzte ich mich auf mein Meditationskissen und löste mithilfe von besagten Ratgebern, Therapeut*innen und Coach*innen alte Muster und Kindheitsprägungen auf – und zwar so lange, bis ich wirklich und wahrhaftig bereit war für die glückliche Beziehung. Es wurden vier Jahre. "

In den zehn Jahren, die ich zum Großteil als Single verbracht habe, gab es einen Punkt auf meiner Checkliste, den ich ganz beruhigt abhaken konnte: den Kann-gut-allein-sein-Punkt. Wobei „gut allein sein können“ nicht gleich bedeutet, dabei auch glücklich zu sein. Immerhin, der Blick in die Self-Help-Regale jeglicher Buchhandlungen zeigt, ich hatte die erste Grundlage für eine glückliche Beziehung erfüllt: Ich konnte selbst Nägel in die Wand hauen und war in der Lage, für mich selbst zu kochen – auch, wenn meine Liebe zu Lieferdiensten diesem Talent nicht ganz so viel Raum ließ, zum Vorschein zu kommen.
Die Tatsache, dass ich trotz erfolgreicher Jobs, engen Freunden und aufregendem Großstadtleben nicht ganz so glücklich war? Erstmal egal, denn das Glücklichsein – anders als die Nägel in der Wand – konnte ich immerhin nach außen vortäuschen. Wieso sich Mr. Right trotzdem nicht dazu hinreißen ließ, an meine großstädtische Single-Wohnungstür zu klopfen, konnte ich beim besten Willen nicht verstehen.

Ist die innere Arbeit wirklich die Voraussetzung für harmonische Beziehungen?

Erst einige Zeit (und einige abenteuerliche Datingversuche) später kam ich auf die Idee, dass ich, auch wenn ich mir eine Beziehung wünschte, nicht unbedingt dafür bereit war. Also setzte ich mich auf mein Meditationskissen und löste mithilfe von besagten Ratgebern, Therapeut*innen und Coach*innen alte Muster und Kindheitsprägungen auf – und zwar so lange, bis ich wirklich und wahrhaftig bereit war für die glückliche Beziehung. Es wurden vier Jahre. Dann erst war ich der Meinung, meine innere Arbeit getan zu haben, bereit zu sein für die harmonischste Beziehung überhaupt. Dass es kaum Paare in meinem Bekanntenkreis gab, die diese Art von Harmonie und Erfüllung lebten, zählte nicht – vermutlich hatten sie innerlich alle noch nicht so aufgeräumt wie ich. Dabei setzte ich bereits den zweiten Haken auf der Checkliste: am Hat-an-sich-gearbeitet-Punkt. Nun gut, der passende Mann, der seinerseits all diese Voraussetzungen erfüllte, fehlte noch für die bevorstehende Beziehung, aber jetzt, da ich all meine Muster kannte, konnte ja wirklich nichts mehr schiefgehen. Ganz bald würde er automatisch in mein Leben treten.

Nun ist es ist eine Sache, vom Mediationskissen oder Therapiesessel aus gedanklich durchzuspielen, wie wir in potenziellen Konfliktsituationen gesünder und reifer (re-)agieren, wie wir dysfunktionale Muster aushebeln. Es ist eine völlig andere, „reale“ Situationen mit einer richtigen Person zu durchleben. Ich will nicht behaupten, Theorie sei nicht wichtig, aber ich denke, alle, die je in der Schule eine Fremdsprache gelernt haben, wissen genau, dass wir erstens nur Bahnhof verstehen, sobald wir außerhalb des Klassenraums unsere Kenntnisse in die Tat umsetzen müssen – und zweitens feststellen, dass wir die Sprache ja doch gar nicht so gut beherrschen, wie wir eigentlich dachten (und wie uns in der Schule gesagt wurde). In anderen Worten: Wir lernen am besten durch Learning by Doing.

Wenn Beziehungen dabei helfen, uns selbst mehr zu lieben

Zurück zur Geschichte: Der Mann kam tatsächlich in mein Leben. All die Muster, die ich zuvor in sorgfältiger Arbeit aufgelöst hatte, allerdings auch. Und seine noch dazu. Wenn ich vorher gedacht hatte, ich sei „bereit“, hätte meine Arbeit getan, dann fing sie erst jetzt so richtig an. Und das war gut so. Denn diese Beziehung hat mir dabei geholfen, mich selbst mit all meinen Mustern und Verhaltensweisen zu erkennen – und, noch wichtiger, diese vermeintlichen Schattenseiten anzunehmen. Im Vergleich zu meinen früheren Beziehungen habe ich hier gelernt, dass echte Nähe nicht durch reine Harmonie entsteht, sondern dann, wenn wir mit unseren Mustern aufeinanderprallen – und uns entscheiden, damit anders umzugehen. Gemeinsam wachsen.

Ich habe mich selbst durch diese Beziehung mehr denn je kennengelernt. Schattenseiten, die ich bisher gut vor mir selbst hatte verstecken können, aber auch schöne Seiten, von denen ich nicht wusste, dass sie überhaupt in mir steckten. Da war jemand an meiner Seite, durch dessen Augen ich mich selbst ganz anders betrachten konnte, und er sich durch meine ebenso. Wir haben uns gegenseitig gesehen und angenommen, wie wir sind und das hat mir geholfen, mich selbst endlich mehr zu lieben. Paradoxerweise konnte ich all das vielleicht auch nur sehen, weil ich mir vorher so viel Zeit für mich und meine innere Welt genommen habe. Vielleicht konnte ich meinem Partner und mir selbst nur so nahe kommen, weil ich all diese Vorarbeit geleistet habe.

"Wir können nicht immer alles selbst heilen oder alle Lösungen nur in uns finden. Und nein, wir müssen uns nicht erst selbst lieben oder gut alleine klarkommen, um eine erfüllte Beziehung zu führen. Natürlich ist ein gewisses Maß an Selbstreflexion wichtig, um nicht in die Falle zu tappen, in der wir jemand anderen für unser Glück verantwortlich machen oder blind in dysfunktionale Verbindungen laufen."

Wir können die Lösungen nicht immer in uns selbst finden

Trotzdem – oder genau deswegen: Wir können nicht immer alles selbst heilen oder alle Lösungen nur in uns finden. Und nein, wir müssen uns nicht erst selbst lieben oder gut alleine klarkommen, um eine erfüllte Beziehung zu führen. Natürlich ist ein gewisses Maß an Selbstreflexion wichtig, um nicht in die Falle zu tappen, in der wir jemand anderen für unser Glück verantwortlich machen oder blind in dysfunktionale Verbindungen laufen. Das extreme Festhalten an dieser Idee, unbedingt ganz bei mir selbst ankommen zu müssen, hält mich davon ab, echte Beziehungen zu führen. Doch die Wahrheit ist: Ich werde nie einhundertprozentig bei mir sein. Niemand wird das. Wir alle sind im Prozess, lernen ständig dazu – ob mit Beziehung oder ohne. Dabei sind es gerade Beziehungen, in denen wir wirklich wachsen können.

Vielleicht ist die eigentliche Vorstellung, von der wir uns lösen sollten, die Erwartung, bei getaner innerer Arbeit den Endzustand des Glücks in Form einer Beziehung zu finden. Stattdessen sollten wir die Checkliste verbrennen und erkennen, dass uns Partner*innen dabei helfen können, den inneren Prozess zu durchlaufen. Und wer hat eigentlich behauptet, wir könnten uns nicht auch in einer Beziehung um uns selbst kümmern?

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