Interview Sina Scheithauer

Sina Scheithauer, wusstest du schon immer, dass du kinderfrei leben willst?

Sina lebt childfree by choice. Und hat ihr kinderfreies Leben zum Beruf gemacht. Denn sie möchte nicht nur unentschiedene Menschen bei ihrer individuellen Beantwortung der Kinderfrage begleiten, sondern ebenso Sichtbarkeit für ein kinderfreies Leben schaffen. Im vergangenen Jahr hat Sina in einem Gastbeitrag für unsere Redaktion über Freundschaft zwischen freiwillig kinderlosen Frauen und Müttern geschrieben und auch über ihre Coaching-Arbeit hinaus bespricht sie, etwa in ihrem Podcast, verschiedenste Themen aus der Childfree-Bubble. Umso mehr haben wir uns darüber gefreut, mit ihr im Interview zu plaudern und unter anderem zu erfahren, ob sie eigentlich schon immer wusste, kinderfrei leben zu wollen …

Hier geht's zu Sinas Gastbeitrag "Freundschaft zwischen freiwillig kinderlosen Frauen und Müttern: Es wird nicht wieder so, wie früher!"

Sina, du lebst selbstbestimmt kinderfrei – wusstest du schon immer, dass du dich nicht als Mutter siehst?

Nein. Tatsächlich habe ich lange Zeit, so wie das ja bei vielen Frauen ist, immer gedacht, dass ich einmal Kinder bekomme. Ich würde sogar sagen, dass ich mit dem Bewusstsein aufgewachsen bin, dass Kinderkriegen zum Leben dazugehört. Wenn es in meinem damaligen Umfeld etwa Frauen gab, die keine Kinder hatten, stellte sich für mich überhaupt nicht die Frage, ob dieser Lebensweg womöglich selbstgewählt war. Vielmehr war immer klar: Wenn jemand keine Kinder hat, dann stimmt irgendetwas nicht. Insofern war ich rückblickend betrachtet schon sehr stark geprägt auf den Gedanken, dass Kinder zum Leben dazugehören. Ich glaube, diese Prägung teile ich mit vielen Frauen. Als ich etwa Mitte 20 war, habe ich begonnen, mich mit dem Thema zu beschäftigen. Das hatte vor allem damit zu tun, dass die Menschen in meinem Umfeld begonnen haben, Kinder zu bekommen. Ich selbst habe mich zu diesem Zeitpunkt noch als sehr jung wahrgenommen, insofern hätte ich mich von mir aus vermutlich nicht mit dem Thema Kinderkriegen auseinandergesetzt. Damals habe ich natürlich noch nicht realisiert, dass mein Alter nicht der Grund dafür war, sondern ich schlichtweg keinen Kinderwunsch verspürt habe.

Wie ging es dann weiter?

Mit etwa Anfang 30 wurde der Druck von außen immer größer, weil immer mehr Menschen in meinem Umfeld Kinder bekamen. Dazu kam, dass ich selbst älter wurde und dachte, mich bezüglich der Kinderfrage nun endlich einmal entscheiden zu müssen. Gleichzeitig standen aber auch andere Lebensentscheidungen für mich an und ich merkte: Ich kann keine Entscheidungen über mein weiteres Leben treffen, wenn ich nicht entschieden habe, ob ich Kinder will oder nicht.

Hattest du damals Vorbilder?

Nein, hatte ich nicht. Es hatte sich aber im Nachhinein herausgestellt, dass ein paar Frauen aus meinem Umfeld einen ähnlichen Weg gegangen sind, wie ich. Eine Person, die als eine Art Vorbild fungierte, hatte ich aber nicht. Ich habe mich damals eher allein gefühlt. Dieses Gefühl ging sogar so weit, dass ich, wenn ich in einer Gruppe von Frauen war, begonnen habe, aus Gesprächen mit diesen Frauen herauszuhören, ob sie Kinder haben oder nicht. Ich wollte natürlich nie übergriffig sein und sie einfach fragen. Aus diesem Grund habe ich gewissermaßen begonnen, die Gespräche ganz genau zu verfolgen – dabei ist dieses Abscannen von Menschen eigentlich überhaupt nicht meine Art. Umso mehr hat mir mein Verhalten gezeigt, wie sehr ich auf der Suche war nach Frauen, die etwas älter sind als ich und mit denen ich mich identifizieren konnte. Ich wollte einfach erfahren, wie diese kinderfreien Frauen leben.

Apropos übergriffig: Bist du mit Blick auf dein kinderfreies Leben schon einmal mit übergriffigen Kommentaren oder Grenzüberschreitungen konfrontiert worden?

Was ich vermehrt erlebt habe, waren Nachfragen, als ich noch nicht entschieden oder frisch entschieden war. Für mich kam ein großer Wendepunkt, als ich die Entscheidung damals für mich persönlich angenommen und entschieden habe, dass es gut so ist. Indem ich von mir aus über das Thema sprechen konnte, hat das auch viel geändert mit Blick auf übergriffige Fragen. Tatsächlich habe ich es aber nicht erlebt, dass Menschen versucht haben, mir meine Entscheidung auszureden. Was ich hingegen erfahren habe, war Irritation oder Unverständnis, was mich früher wahrscheinlich eher geärgert hätte. Heute denke ich mir vielmehr: Naja, woher sollen es die Leute auch wissen?! Das soll keine Entschuldigung für übergriffiges Verhalten sein, aber vielleicht eine Erklärung. Denn ich merke, dass manche Menschen wirklich ehrlich überrascht sind und sich plötzlich mit der Frage konfrontiert sehen, ob sie in der Vergangenheit womöglich ähnlich gehandelt hätten.

Nimmst du dir in diesen Fällen dann die Zeit, deine persönliche Entscheidung genau zu erklären?

Ich sehe mich nicht als die Person, die allen Menschen kinderfreies Leben erklären oder schmackhaft machen muss. Wenn ich also den Eindruck habe, dass jemand, etwa in den sozialen Medien, schlichtweg anecken und diskutieren will, beende ich das Gespräch. Daran habe ich kein Interesse. Wenn ich aber, vor allem in 1:1-Begegnungen, feststelle, dass vom Gegenüber echtes Interesse kommt, dann erkläre ich meine Entscheidung natürlich gerne. Um kinderfreies Leben sichtbar zu machen, gehört es dazu, darüber zu sprechen. Natürlich kann man sich auf der einen Seite über das Unwissen mancher Menschen ärgern. Wenn ich mich aber in einer guten Gesprächssituation befinde, in der ehrliches Interesse an meinem Weg herrscht, sehe ich das Ganze als Chance für Sichtbarkeit.

Warum liegt deiner Meinung nach auf Frauen noch immer diese enorme gesellschaftliche Druck, sich für ein Kind entscheiden zu müssen?

Ich glaube, dass Kinderkriegen eine Art gemeinsamer Nenner ist, der sich durch viele gesellschaftliche Schichten zieht. Es bildet eine große Gemeinsamkeit und wir Menschen sind nun einmal sehr darauf gepolt, Gemeinschaft zu suchen. Wir gehören gerne dazu. Das Paradoxe daran ist, dass wir einerseits in einer Gesellschaft leben, in der es immer wieder darum geht, sich abzuheben von anderen und individuell zu sein. Doch gerade bei der Kinderfrage erlebe ich das komplett anders und stelle eher fest, dass es sich für viele Frauen gar nicht gut anfühlt, von der Menge abzuweichen. In unserer vermeintlich individualistischen Gesellschaft verläuft das vermeintlich ideale Leben wie folgt: Leb dich aus in deinen 20ern, settle dich, finde einen Mann, heirate und bau ein Haus. Sei aber auch erfolgreich, das gehört zur heutigen Rolle einer Frau immerhin auch dazu und kröne dann das Ganze mit 1,5 Kindern. Zudem glaube ich, dass das Mutterbild noch immer extrem an ein Weiblichkeitsbild gebunden ist. Das spiegelt sich auch häufig bei ungewollt Kinderlosen wider, weil eine ungewollte Kinderlosigkeit häufig für die Betroffenen mit sehr viel Scham besetzt ist und die Weiblichkeit häufig infrage gestellt wird. Hier gibt es durchaus eine Parallele zu bewusst kinderfreien Frauen: Denn diesen Frauen wird gewissermaßen die Frage gestellt, wie man die von der Natur gegebene Fortpflanzungsfähigkeit nicht für sich in Anspruch nehmen kann.

Stellen kinderfreie Frauen somit eine Art Störfaktor in dem gesellschaftlichen Gefüge dar?

Auf jeden Fall! Nadine Pungs (Autorin des Buches „Nichtmuttersein“, Anm. d. Red.) sagt, Nicht-Mütter seien der Wackelkontakt im gesellschaftlichen System. Das sehe ich genauso. Meiner Meinung nach wird es an dieser Stelle politisch: Mit der Mutterschaft werden in dem System, in dem wir leben, extrem viele Aufgaben verbunden. Neben all der Freude, die ich Müttern gar nicht absprechen möchte, geht aber auch ganz viel Belastung einher – vor allem, wenn Carearbeit und Lohnerwerb miteinander vereint werden müssen. Sich für ein kinderfreies Leben zu entscheiden, ist also auch eine Entscheidung gegen all diese Dinge. Das bedeutet nicht, dass kinderfreie Menschen keinen Stress haben und es nicht auch Verpflichtungen gibt. Ich bin dennoch davon überzeugt, dass man als kinderfreier Mensch seine Belastungen und Herausforderungen ganz anders bestimmen und dosieren kann als eine Person, die Sorge für ein oder mehrere Kinder trägt. Dennoch kann die Entscheidung für ein kinderfreies Leben für Irritation sorgen: Zum einen, weil Menschen, die sich möglicherweise anders entschieden haben, sich damit konfrontiert sehen, wie ein kinderfreies Leben hätte aussehen können. Zum anderen, weil häufig der Reflex besteht, zu behaupten, kinderfreie Menschen würden es sich einfach machen im Leben.

"Es muss noch viel passieren. Dennoch glaube ich, dass vor allem über persönliche Geschichten ganz viel Bewusstsein in den Köpfen der Menschen geschaffen werden kann. Das mag idealistisch gedacht sein, dennoch glaube ich, dass Sichtbarkeit der Schlüssel ist. Ich denke, der Tag, an dem kinderfreie Menschen einen gesellschaftlichen Platz erhalten, wird nicht kommen – umso wichtiger ist es, dass wir uns diesen Platz erobern."

Du bist stolze Besitzerin eines Hundes und bezeichnest dich bei Instagram augenzwinkernd als #dogmom. Wie stehst du zu dem Satz „Dein Haustier ist doch ein Kind-Ersatz“?

Ich kann für mich persönlich sagen, dass ich diesen Satz sehr lustig finde. Mein Hund ist in mein Leben gekommen, als ich 22 Jahre alt war. Damals bin ich witzigerweise noch fest davon ausgegangen, irgendwann einmal Kinder zu haben. Mir ist natürlich bewusst, dass der Hashtag #dogmum absolut ironisch gemeint ist. Aber ich spiele gerne mit diesem Klischee, mit gutem Gewissen sagen zu können, dass mein Hund in keinster Form ein Kindersatz ist. Interessanterweise war mir in meinem Leben immer völlig klar, einmal einen Hund haben zu wollen. Das hat sich nicht geändert – ich würde immer wieder einen Hund wollen. So geht es auch vielen Frauen, mit denen ich arbeite oder Userinnen aus meiner Community. Viele sagen, sie haben immer gewusst, mit Tieren leben zu wollen und haben, im Gegenteil, nie einen Kinderwunsch verspürt. Umso mehr finde ich, dass man diese beiden Dinge – Tier und Kind – überhaupt nicht miteinander vergleichen kann. Das eine hat mit dem anderen meiner Meinung nach überhaupt nichts zu tun.

Deine selbstbestimmte Kinderlosigkeit hast du inzwischen zum Beruf gemacht und berätst Frauen und Paare bei der Kinderfrage. Wie darf man sich deine Arbeit vorstellen?

Ich glaube, mein Beruf ist abwechslungsreicher als man im ersten Moment denken mag. Häufig wird angenommen, viele Herausforderungen rund um die Kinderfrage seien ähnlich. Das Interessante ist aber: Wenn ich gemeinsam mit nicht entschiedenen oder noch nicht entschiedenen Frauen oder Paaren auf ihre individuelle Situation blicke, merkt man, dass diese Herausforderungen häufig sehr unterschiedlich und verbunden mit anderen Lebensthemen sind. Was ich an meinem Beruf so sehr mag, ist, dass die Entscheidung in der Kinderfrage es vielen Menschen ermöglich, noch einmal auf viele andere Themen in ihrem Leben zu blicken. Es geht darum, dass die Menschen sich weiterentwickeln und sich ein Leben gestalten, wie sie es sich wünschen. Wenn sie genau diese Herausforderung annehmen und den großen Struggle, der mit der Entscheidung häufig verbunden ist, hinter sich lassen, ist so viel möglich im Leben. Diesen Weg begleite ich durch Coaching, Gespräche und verschiedene Methoden.

Arbeitest du auch mit Paaren, die einen einseitigen Kinderwunsch haben?

Ja, ich erlebe es häufig, dass Paare zu mir kommen, bei denen ein einseitiger Kinderwunsch besteht. Manchmal kommen auch Paare zu mir, die gemeinsam die Kinderfrage klären wollen, weil beide noch nicht entschieden oder neutral sind – das ist bisher aber eher die Ausnahme gewesen. Meistens kommen aber Paare, bei denen ein Part einen Kinderwunsch hat und der andere nicht.

Kannst du anhand deiner Erfahrung sagen, welcher Part – wenn wir von einer heteronormativen Beziehung ausgehen – häufiger entschieden bzw. unentschieden ist?

Das ist relativ ausgeglichen. Da sich mein Content ja vorrangig an Frauen richtet, ist es so, dass Frauen sich in der Regel an mich wenden. Ich könnte aber nicht pauschal sagen, ob eher die Frauen oder Männer unentschieden sind.

Welche Zweifel äußern unentschiedene Frauen im Rahmen deiner Seminare am häufigsten, wenn es um die Kinderfrage geht?

Ein großer Grund, der häufig genannt wird, ist die Sorge, im Alter allein zu sein. Ein weiterer großer Grund ist das Gefühl, sich ausgeschlossen zu fühlen. Häufig dominieren dann Gedanken wie „Wenn ich mich gegen ein Kind entscheide, entscheide ich mich gegen den Weg, den rund 90 Prozent der Menschen in meinem Umfeld einschlagen“. Daraus resultieren Fragen wie „Wirkt sich die Entscheidung möglicherweise auf meine Freundschaften aus?“, „Kann ich mit Paaren, die ein Kind bekommen haben, noch zusammen in den Urlaub fahren?“ oder „Bin ich irgendwann genervt, wenn ich im Freundeskreis der/die Einzige ohne Kinder bin und umgekehrt?“. Es geht aber auch häufig um den Selbstwert. Hier geht es um Fragen wie „Stimmt mit mir etwas nicht, wenn ich keinen Kinderwunsch verspüre?“ oder „Wie sehen mich andere Menschen?“. In diesem Zusammenhang befinden wir uns wieder mitten in dem gesellschaftlichen Narrativ zur Rolle der Frau. Auch die Angst, die Entscheidung möglicherweise irgendwann zu bereuen, wird in den Seminaren häufig thematisiert. Insgesamt geht es viel darum, die Ambivalenz auszuhalten und zu akzeptieren. Denn es gibt auch Frauen, die in gewisser Weise beides in sich tragen: einen Kinderwunsch, der aber letztlich nicht so stark ist, sich gegen die Zweifel durchzusetzen. In diesem Fall geht es darum, zu sehen, welcher der beiden Wege am glücklichsten macht und wie man mit dieser Ambivalenz leben kann.

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Ein weiteres Projekt, dem du dich widmest, ist dein Podcast „Childfree Coffee Club“. War dir von vorneherein bewusst, wie viel Themenvielfalt kinderfreies Leben hergibt?

Mir war von Anfang an klar, wie vielschichtig kinderfreies Leben ist. Vielmehr wurden anfangs von außen Zweifel geäußert. Mir war es aber wichtig, in dem Podcast unterschiedliche Geschichten zu erzählen. Auch, wenn sich natürlich gewisse Dinge wiederholen oder ähneln, ist jede Geschichte individuell. Natürlich bin ich trotzdem oft überrascht, wie viele Aspekte das Thema hergibt, die ich möglicherweise noch nicht auf dem Schirm hatte. Dementsprechend lerne ich auch wahnsinnig viel im Rahmen der Gespräche. Ich freue mich sehr über die Entwicklung des Podcasts und über die Sichtbarkeit, die damit geschaffen wird.

Hast du im Verlauf der vergangenen Jahre einen Wandel im gesellschaftlichen Bewusstsein festgestellt, wenn es um kinderfreies Leben geht?

Ich nehme auf jeden Fall wahr, dass das Thema in den vergangenen ein bis zwei Jahren sehr stark in den Vordergrund gerückt ist. Hier spielt natürlich die Berichterstattung eine entsprechende Rolle – ich merke ein starkes Medieninteresse. Natürlich kann ich nicht beurteilen, ob das Interesse vielmehr durch eine Art Trend entsteht – nichtsdestotrotz erhält kinderfreies Leben auf diese Weise Sichtbarkeit und darum geht es immerhin. Mir ist natürlich bewusst, dass ich innerhalb meiner Bubble sehr viel Zuspruch erhalte und innerhalb dieser Blase auch meine Childfree-Brille trage. Blicke ich dann aber mal in die Kommentarspalten größerer Medienhäuser, wird mir schnell bewusst, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben. Es muss noch viel passieren. Dennoch glaube ich, dass vor allem über persönliche Geschichten ganz viel Bewusstsein in den Köpfen der Menschen geschaffen werden kann. Das mag idealistisch gedacht sein, dennoch glaube ich, dass Sichtbarkeit der Schlüssel ist. Ich denke, der Tag, an dem kinderfreie Menschen einen gesellschaftlichen Platz erhalten, wird nicht kommen – umso wichtiger ist es, dass wir uns diesen Platz erobern. Natürlich spielen Medien und Social Media hier eine große Rolle, aber am besten erobern wir uns diesen Platz, indem wir sichtbar werden.

Danke für deine Worte, liebe Sina!

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