Me Time Film Mutterschaft Schwangerschaft

Selbstbestimmung, Frauenrechte, Tabus: Wie der Film „me time“ kinderfreies Leben und Erwartungen an Mütter in den Fokus rückt

Sterilisation, Schwangerschaftsabbruch, Adoption, Regretting Motherhood und ungeplante Schwangerschaft. Geht es um das Thema Kinderkriegen tauchen automatisch viele Fragen auf: Wie wirkt sich das Kinderkriegen auf die Partnerschaft aus? Wie sieht es mit Care-Arbeit im Jahr 2022 aus? Was ist mit Karriere und Berufseinstieg? Woher kommt der Druck aus Religion und Gesellschaft? Welche Vorteile bringen ein kinderfreies Leben? Wo ist der Unterschied zwischen kinderlos und kinderfrei? Was ist, wenn man es mal bereut, keine Kinder zu haben? Oder bereut, Mutter zu sein? Mit genau diesen Fragen und jeder Menge Antworten darauf hat sich Filmemacherin Ayla Yildiz im Rahmen ihres neuen Films "me time" auseinandergesetzt. Entstanden sind 90 Minuten voller Ehrlichkeit, Emotionen und vielen Wahrheiten, die mitunter nicht jede:r hören möchte. Wir haben uns mit Ayla unterhalten und festgestellt: Dieser Film richtet sich an alle: ob mit Kinderwunsch oder ohne, ob an Eltern oder Nicht-Eltern.

Danke für diesen spannenden Austausch, liebe Ayla!

Ayla, wie kam es zu der Idee, den Film "me time" zu produzieren?

Ich habe letztes Jahr bei einem Filmwettbewerb für arte mitgemacht, bei dem weibliche Regisseurinnen aufgefordert wurden, einen Film zum Thema "unbeschreiblich weiblich" zu machen. Ich habe mich mit meiner Freundin Judith besprochen, welches Thema ich behandeln sollte. Als Judith mit ihrer Nachbarin Eva überlegte, sagte sie "Das Thema `Childfree´ ist noch unterrepräsentiert." Sofort wusste ich: Das ist es!
Da Judith sterilisiert ist, habe ich mich sehr über sie als Protagonistin gefreut. Eva lebt auch kinderfrei und konnte mit ihrem feministischen und gesetzlichen Know-How als Rechtsanwältin einen tollen Beitrag zum Wettbewerbsfilm leisten. Kurz darauf waren die ersten, die ich ansprach, die heutigen Protagonist:innen: meine Nachbarin und Freundin Gabi (hatte einen Schwangerschaftsabbruch), mein Kumpel Lito (ist adoptiert) und meine Freundin Daniela (wurde ungeplant schwanger mitten in ihrem geldlosen Lebensstil und entschied sich für das Kind). Sie alle sind perfekt für dieses Thema, da jede:r eine individuelle, spannende Geschichte mit in den Film bringt. Das führte auch dazu, dass die Interviews mit ihnen jeweils über eine Stunde dauerten …

… was deutlich zu lang für ein Kurzfilm-Projekt ist.

Absolut. Es waren unfassbar vielseitige und spannende Gespräche, dessen Frage und Antworten eigentlich eins zu eins so veröffentlicht werden könnten. Aber aus den mehr als sechs Stunden Interview-Material durfte für den Wettbewerb nur ein zwölf minütiger Film entstehen.
Die Postproduktion fiel mir daher unfassbar schwer! Die vielseitigen Themen waren alle so wichtig und so gut und ich wusste, das wird Menschen zum Nachdenken bringen, inspirieren, Stigmata lösen, Tabus brechen, Akzeptanz schaffen, die Welt bewegen. Allerdings reichen dafür keine zwölf Minuten. Ein wenig hatte ich sogar gehofft, den Wettbewerb nicht zu gewinnen, um stattdessen einen längeren (Kino-) Film zu erstellen. And that’s how we ended up here …

Worum geht es in dem Film?

Die Message des Films ist dreierlei:
1. Das Kinderkriegen wird überall romantisiert.
Ob auf Instagram oder im Bekanntenkreis. Alles scheint leicht, wunderbar, das tollste Gefühl auf Erden und wahre Gefühle verschwinden mit allem Kinderspielzeug im Schlafzimmer, sobald Gäste kommen. Als ich die zwölfminütige Version meinen Freund:innen, Familienmitgliedern und Bekannten zeigte, hörte ich erstmals von ihren unfassbar emotionalen Geschichten, wie es zur Schwangerschaft kam, welch enorme Komplikationen daraus entstanden und welcher Druck ihnen damals gemacht wurde. Dass sie eigentlich gar keine Kinder haben wollten, zu früh bekamen, bedrängt wurden, vom Partner überredet wurden, der die Familie dann im Stich ließ, dass sie ihr Studium abbrechen mussten, sich fragen, wie es anders hätte ablaufen können, wenn man sie einfach in Ruhe gelassen hätte. Oder ihnen vorher bewusst gemacht hätte, welch enorme Verantwortung, Kinder großzuziehen bedeutet.
Bis heute höre ich oft "Ach, wenn ich schwanger werde, dann ist das halt so!", obwohl die Beziehung ständig kurz vor der Trennung steht, die finanzielle Lage ungeklärt und die Wohnsituation absolut ungeeignet ist. "Kriegen wir schon hin", höre ich. Ich weiß nicht, woran das liegt – aber mit meinem Film möchte ich dazu beitragen, dass mehr darüber gesprochen wird, was alles dazu gehört, um sich sicher in der Entscheidung zu sein und sich über die kommenden Aufgaben und Herausforderungen bewusst ist, damit man seinen eigenen Bedürfnissen und denen eines aufwachsenden Kindes gerecht wird.

2. Über Schwierigkeiten muss gesprochen werden, um Lösungen zu schaffen.
Meine Dokumentationen zielen immer darauf ab, über bestimmte Tabuthemen aufzuklären und Schweigen zu brechen. Von Freundinnen, die Mutter sind, habe ich schon ein paar mal Dinge gehört, wie "irgendwie bin ich froh, dass mein Kind krank zuhause liegt und ich endlich mit dir etwas unternehmen kann … Gott, ich bin eine schreckliche Mutter, oder?" Natürlich nicht! Aber ähnliche Sätze höre ich total oft. Warum sollte man nicht sagen dürfen, wie anstrengend das alles ist? Wie schwer und wie überfordert man ist? Warum ist der Leistungsdruck so hoch, dass eine enorm hohe Zahl an Eltern, besonders Mütter, an Burnout leiden? Und was macht das mit der Erziehung, wenn die Eltern nicht einmal darüber reden dürfen, wie sollten sie dann Hilfe und Unterstützung von ihrem Umfeld bekommen? Mit "me time" möchte ich auch den Druck wegnehmen, der auf Frauen, eben besonders auf Müttern, liegt und das Gefühl vermitteln, dass es völlig okay ist, über seine Zweifel, Ängste und Probleme offen zu sprechen.

3. Es fehlt noch immer an Akzeptanz für kinderfreies Leben.
Auch ich bin so aufgewachsen: Beinahe jeder Film und jede Serie endet mit Hochzeit und Schwangerschaft und hat mir suggeriert, dass dieses Happy End auch mein Ziel sein sollte. Aber mein Ziel und mein Fokus war immer woanders und lange hat mich das "Ich muss heiraten und Kinder kriegen, weil das meine Aufgabe als Frau ist" im Hinterkopf begleitet. Besonders, wenn mmir mein Umfeld, wie Mutter, Oma und konservativ denkende Bekannte bei jedem Gespräch einredet, dass man vorher nicht glücklich sein könne. Ich bin glücklich – aber es ist anstrengend, ständig und seit nun über sechs Jahren von anderen zu hören, dass man das nicht sei, weil sie mitunter von veralteten Gesellschaftsnormen geprägt sind.

Ein kinderfreies Leben, der Druck auf Frauen, Erwartungen an Mütter, Sterilisation, Schwangerschaftsabbrüche, Regretting Motherhood oder Adoption sind Themen, die auch im Jahr 2022 noch immer kontrovers behandelt werden. Wie reagieren die Menschen in deinem Umfeld auf die Tatsache, dass du eben diesen Themen einen Dokumentarfilm widmest?

Aus meinem Umfeld gab es tatsächlich ausschließlich positives Feedback! Selbst mein Papa ist begeistert. Meine Mutter will unbedingt Enkelkinder, sie wird den Film erstmals im Kino sehen … Freunde (von denen die allermeisten kinderfrei leben oder noch kinderlos sind) freuen sich sehr auf den Film, aber auch viele Mütter und Väter, Kolleg:innen und ehemalige Schulkamerad:innen haben mir gratuliert. Negative Reaktionen gab es bisher von fremden Menschen über Instagram oder durch die Newsletter. Aber das war zu erwarten, da der Film sehr provokativ ist und ein Shitstorm nicht auszuschließen ist. Dennoch weiß ich, dass der Film vielen Menschen Stärke geben, inspirieren und informieren wird. Und wie erwähnt, hoffe ich auf Akzeptanz und Toleranz zu den Tabuthemen, wie Abtreibung und Regretting Motherhood.

Die Protagonist:innen im Film kritisieren Gesellschaftsnormen und revidieren auch Vorurteile – welche spannenden Tabubrüche erwarten uns in dem Film?

Frauen werden tatsächlich bis heute – auch in Deutschland – auf ihre Gebärfähigkeit herabgestuft. In anderen Ländern ist es natürlich sehr viel krasser, wie aktuell die gesetzliche Lage zum Thema Abtreibung in den USA oder auch Statistiken zu Abtreibungen von weiblichen Embryos in Indien zeigen oder Religionen, bei denen eine hohe Geburtenrate erwartet wird und Frauen unter Druck gesetzt sind. Daher möchte ich den Film unbedingt noch mit englischen Untertiteln herausbringen. Aber gesellschaftlicher Druck ist auch hier vorhanden mit ständigen Fragen á la "Und, wann ist es bei dir so weit?" oder Sätzen wie "Jetzt hast du noch 15 Jahre". Umgekehrt erzählt Lito, dass er als kinderfreier Mann bei der Partnersuche immer wieder merkt, dass es ein No-Go ist, wenn ein Mann keine Kinder möchte. Kurz: Der Druck, eigenen Nachwuchs zu bekommen, ist sehr hoch. Selbst hier im privilegierten Deutschland, wo es im Vergleich zu anderen Ländern den meisten egal ist, ob man Kinder will oder nicht.

Ich stelle mir die Dreharbeiten und die sehr intensiven Interviews auch emotional vor – gab es besonders prägende Momente während des Drehs für dich und die Protagonist:innen?

Die Interviews führe ich immer wie ein Gespräch unter Freunden. Daher vertieft man sich oft in ein Thema und wird schon mal emotional. Zwei sehr intensive Momente bereiten mir bis heute immer wieder aufs Neue Gänsehaut – obwohl ich es schon zehntausend Mal gehört habe. Ich verrate aber nur, dass es sich um eine Reaktion auf Judiths Sterilisation und um Pias Gefühle der Reue geht, um euch diese Momente im Kino oder bei eurem Filmabend zuhause nicht vorwegzunehmen …

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