Oh Boy Podcast
Foto: Denys Karlinskyy

„Kleidung sollte kein Geschlecht haben“ – Auf einen Plausch mit Turid vom Podcast OH BOY!

Wie herausfordernd ist es, den eigenen Sohn feministisch zu erziehen und welche Genderklischee-Fallen warten währenddessen nur darauf, dass man in sie hineintappt? Über diese und noch weitere Fragen sprechen Turid Reinicke und Muschda Sherzada in ihrem Podcast OH BOY - zwei Mütter, zwei Söhne, viele Fragen. Dabei wollen die beiden Mamas alles andere als belehrend sein – ganz im Gegenteil. Denn auch die beiden sind nicht davor gefeit, hier und da mal versehentlich eine genderstereotypische Schublade zu öffnen. Umso wichtiger ist es den Freundinnen, in den Austausch zu gehen. Mit anderen Eltern und immer auf Augenhöhe. Im Interview hat Turid uns erzählt, wie ein Fettnäpfchen den Auftakt für den Podcast gegeben hat und wie es ein lila Tutu in den Kleiderschrank ihres Sohnes geschafft hat.

Danke für deine Worte, liebe Turid.

Liebe Turid, euer Podcast heißt OH BOY - zwei Mütter, zwei Söhne, viele Fragen. Dabei geht es um die Fragen, warum Feminismus auch Jungssache ist und warum Gleichberechtigung bereits im Kinderzimmer beginnen sollte. Wie kam es zu dem Projekt?

Turid: Uns kam der Gedanke, als unsere Kinder noch sehr klein waren. Damals saßen wir mit unseren Söhnen in einem Spielhaus und ich habe Muschda von einem „New York Times“-Artikel namens „How to raise a feminist son“ erzählt und wir tauschten uns intensiv zwischen spielenden Kleinkindern darüber aus. Zunächst dachten wir, das Bewusstsein für die Thematik sei schon recht groß. Aber keine halbe Stunde später sind wir selbst in die Geschlechterfalle getappt, indem wir ein Kind mit einem kunstvollen Dutt fälschlicherweise für ein Mädchen hielten. Wir haben uns daraufhin angesehen, gelacht und festgestellt, dass Genderklischees eben so tief in uns verankert sind, dass es dazu noch ganz viel zu sagen und zu lernen gibt. Damit war die Idee zum Podcast geboren.

Habt ihr euch schon vor der Geburt eurer Söhne mit Genderstereotypen befasst oder ist das Ganze erst mit eurer Mutterschaft Thema geworden?

Muschda hatte bereits zuvor durch ihren Job beim Kinderfernsehen häufig mit diesen Themen zu tun und realisierte dann im Laufe der Schwangerschaft, mit welchen Vorurteilen und Klischees man als “Jungsmama” konfrontiert wird. Ich hingegen habe in dem Moment, in dem ich erfahren habe, mit einem Jungen schwanger zu sein, gedacht: 'Shit'. Und zwar nicht, weil ich Jungen doof finde, sondern weil der 'Erziehungsauftrag' bei einem Sohn ein viel größeres Fragezeichen in meinem Kopf bildete, als es bei einer Tochter der Fall gewesen wäre. Gerade weil ich in Sachen Female Empowerment ja bisher immer die weibliche Perspektive gesehen und empfunden habe, wäre mir entsprechend klar gewesen, wie ich diese Werte an eine Tochter weitergebe. Mit Blick auf meinen Sohn habe ich mich aber gefragt: 'Was heißt das alles jetzt im Zusammenhang mit Söhnen? Wie soll eigentlich Männlichkeit in Zukunft stattfinden? Was ist mein Standpunkt und wie sieht die Perspektive von Jungen aus?'

Glaubst du, dass du mit diesem Gedanken also auch ein Stück weit in die Genderklischee-Falle getappt bist?

Vielleicht, ja. Denn mit Sicherheit kann man sagen, dass es sich bei einem Baby in den ersten Lebensjahren vordergründig weder um einen Jungen noch um ein Mädchen handeln sollte, sondern schlichtweg um ein Kind. Ich glaube dennoch, dass sich von der Rosa-Hellblau-Falle® [von Almut Schnerring & Sascha Verlan, Anm. d. Red.] niemand ganz lossagen kann, egal, wie viele Gedanken wir uns darüber machen. Das merken wir auch in dem Podcast immer wieder und es ist uns ein großes Anliegen, das Thema nicht von einem Podium herab zu beackern. Vielmehr handelt es sich hier um einen Prozess, bei dem wir die Menschen gerne mitnehmen und gemeinsam in den Dialog gehen wollen. Denn auch wenn ich von mir selber als Feministin sprechen würde, hänge ich selber immer mal wieder in erlernten Mustern fest, die alles andere als feministisch sind.

Auch du bist also schonmal in die Genderklischee-Falle getreten …

Absolut. Genau darum geht es auch in unseren Podcast-Folgen, denn wir merken, dass auch wir noch nicht 'die Weisheit mit Löffeln gefressen haben'. Ich hatte zum Beispiel gerade die Situation, dass ich vor der Frage stand, ob ich meinem Sohn ein Kleid anziehe. Ich persönlich begrüße das und bin der Meinung, Kleidung sollte kein Geschlecht haben. Aber ich war unsicher, ob der Impuls dafür mehr von mir oder von meinem Sohn kommt. Er hatte einige Male auf Nachfrage den Wunsch geäußert, ein Kleid tragen zu wollen. Ich stand also jetzt vor der Frage, inwieweit ich diesen Wunsch befeuere oder ob es sich hierbei eigentlich um meinen Wunsch handelt und ich ihn damit in eine unangenehme Situation bringe, sobald er das Haus verlässt. Ich bin dann aber zu dem Schluss gekommen, dass es mindestens genauso 'manipulierend' wäre, ihm ständig nur Klamotten aus der Jungsabteilung zur Auswahl zu stellen und nun hängt neben dem Fußball-Trikot eben auch ein lila Tutu in seinem Kleiderschrank. Aktuell trägt er am liebsten beides übereinander.

Sorgst du dich in diesen Momenten auch vor Vorurteilen und Vorverurteilungen?

Ja, denn selbst wenn ich mich von meinen eigenen Vorurteilen befreien kann, bleibt die Angst vor den Verurteilungen anderer. Die eine Frage ist ja, welche Werte wir in unserem Familienumfeld vermitteln wollen. Die andere Frage, die sich hier aber auch stellt, ist, was meinem Sohn begegnet, wenn er in die Welt außerhalb der familiären Umgebung hinausgeht. Da durchlebt man dann den Spagat zwischen progressiven Einflüssen und der Befürchtung, ihm das Leben schwer zu machen. Diesen Konflikt kennen bestimmt viele Eltern.

In der Theorie wird immer viel davon gesprochen, genderstereotypische Schubladen zu schließen – in der Praxis sieht das Ganze häufig aber dann doch anders aus. Beobachtest du inzwischen einen Wandel?

Ich glaube, dass man dieses Thema häufig sehr stark aus seiner eigenen Bubble heraus betrachtet. Wenn ich also in meinen Freundeskreis blicke, findet hier nicht das typische 'Jungs tragen Hellblau und Mädchen Rosa'-Bild statt. Im gesellschaftlichen Querschnitt sieht es dann aber doch anders aus – deshalb funktionieren auch Spielzeug- oder Kinderbekleidungsläden mit getrennten Abteilungen für Jungen und Mädchen so gut. Einen Wandel kann ich dennoch beobachten – meiner Meinung nach allerdings in erster Linie mit Blick auf Mädchen. Wenn wir beim Thema Kleidung bleiben, findet ein Mädchen im St.-Pauli-Hoodie auf dem Spielplatz inzwischen ganz selbstverständlich statt, ein Junge mit Rock, Rüschen und Glitzer hingegen selten.

Woran liegt diese Unterscheidung deiner Meinung nach?

Genau dieses Thema haben wir auch schonmal in einer Podcast-Folge thematisiert, in der Fabian Hart [Modejournalist und Host des Podcasts Zart bleiben, Anm. d. Red.] zu Gast war. In dem Gespräch ging es darum, dass es noch immer weniger irritierend für uns ist, wenn wir Mädchen sehen, die sich mit männlich gelesenen Attributen schmücken, als anders herum. Weil Weiblichkeit – und eben das ist so tief gesellschaftlich verwurzelt – als Schwäche gelesen wird. Das bedeutet: Kleidet sich ein Mädchen wie ein Junge, ist das eher eine Aufwertung. Zeigt sich ein Junge hingegen mit Zartheit und femininen Codes, dann wird das gesellschaftlich eher als Abwertung betrachtet. Ich glaube, das ist ein entscheidender Faktor, der aber den wenigsten von uns bewusst ist. Die Irritation und Ablehnung findet total unterbewusst statt. Deswegen muss über dieses Thema unbedingt mehr gesprochen werden, auch wenn das nicht bedeutet, dass wir dann ab sofort automatisch alles richtig machen. Diese gesellschaftliche Verwurzelung bewusst wahrzunehmen und zumindest mal zu hinterfragen, halte ich jedoch für den entscheidenden ersten Schritt in die richtige Richtung.

Hast du dich schonmal in einer Situation befunden, in der sich die Leute dennoch angegriffen fühlen, wenn sie sich mit dieser gesellschaftlichen Verwurzelung konfrontiert fühlen?

Mir hat jetzt zum Glück noch niemand wütend gegen das Schienbein getreten, aber dennoch nehme ich wahr, dass nicht immer Konsens herrscht. Natürlich bewege ich mich nicht ausschließlich in meiner Bubble, in der man sich grundlegend einig ist. Allein durch Konstrukte wie etwa die Kita oder den familiären Kontext kenne ich natürlich die Diskussionen und verschiedenen Standpunkte. Es ist nicht so, dass ich jeden Tag ausschließlich mit Menschen spreche, die permanent nicken bei allem, was ich sage und mache. Und so wird es auch nicht all unseren Hörer:innen gehen. Zum Glück, denn nur so kommt man ins Gespräch und in Bewegung.

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Stellst du in manchen Diskussionen dennoch manchmal fest, dass einigen Menschen erst im Gespräch bewusst wird, dass sie genderstereotypische Schubladen öffnen?

Ja, manchmal bekommen wir auf unseren Podcast zwar Feedback wie 'Für mich ist das alles nichts Neues' und das finden wir grundsätzlich sehr erfreulich zu hören, aber über Hörer:innen-Kommentare wie 'Da hatte ich noch gar nicht drüber nachgedacht' freuen wir uns am meisten. Denn genau dafür ist dieses Format gedacht: Als gemeinsamer Denkanstoß für all diejenigen, die sich im Alltag vielleicht noch nicht explizit mit dem Thema beschäftigt haben und sich dem eigenen Schubladen-Bingo noch gar nicht so ganz bewusst sind.

Warum stellt geschlechtersensible Erziehung deiner Meinung nach eine so große Herausforderung dar?

Genderstereotypen sind gesellschaftlich in uns verankert und Kategorisierungen vereinfachen unseren Alltag. Da gibt es also eine gewisse Bequemlichkeit, frei nach dem Motto 'Das war schon immer so, das bleibt auch so', weil Veränderung schließlich immer auch mit Anstrengung einhergeht. Und weil viele dieser Stereotypen so sehr in unserem täglichen Handeln und Denken versteckt sind, dass man diese erst einmal ausgraben und freilegen muss, um alle Aspekte zu erkennen. Für das Offensichtliche, wie etwa Fragen ’Trägt mein Sohn Blau und meine Tochter Rosa?' ist die Sensibilität größer, als bei all den Themen, die darunter liegen. Wenn man erst einmal anfängt, kommt man schnell vom Hundertsten ins Tausendste - es ist sehr komplex und in gewisser Weise reden wir hier also von einer Lebensaufgabe.

Elternschaft und vor allem Mutterschaft wird in den sozialen Medien häufig sehr romantisiert dargestellt. Wie stehst du dazu?

Ich glaube, dass auch hier wieder die Perspektive eine Rolle spielt. Ich persönlich bekomme diese Romantisierung in meinem Social-Media-Feed gar nicht so ausgespielt. Da gibt es eher Diskussionen über 'Geburt zwischen Ursprünglichkeit und moderner Medizin', 'Bewusste Entscheidung gegen Mutterschaft' und viele Einblicke 'zu den Schattenseiten vom Mutterdasein'. Aber grundsätzlich nehme ich wahr, dass die Darstellung von Mutterschaft eigentlich immer mit einem Druck in die eine oder andere Richtung belastet wird. Es ist offenbar ein Thema, wozu wirklich jeder Mensch eine Meinung hat und sich berufen fühlt, sie kund zu tun. Als Mutter wird man schnell zu einem Objekt des gesellschaftlichen Diskurses und somit nicht mehr als individuelles Wesen wahrgenommen. Gleichzeitig ist Mutterschaft oft sehr eng verknüpft mit der weiblichen Identitätsfrage, ebenfalls mit ordentlich gesellschaftlichem Druck auf dem Kessel. Wenn es um Gleichberechtigung geht, ist Mutterschaft der Elefant im Raum: Man kann ihn nicht außen vor lassen, müsste ihn aber auch erstmal von jeder Menge Ballast befreien, um zum Kern des Wesens vorzudringen. Romantisierung ist da ein Aspekt von vielen. Meiner Meinung nach handelt es sich hierbei um eine der größten Herausforderungen der Emanzipation.

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